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"Auge für Auge", nicht "Auge um Auge"

Exegetische und systematische Annotate zur Rechtssatzung des Schadenersatzes *

(2. Mose 21, 22-25; 3. Mose 24, 17-22; 5. Mose 19, 16-21)

von Brigitte Gensch

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„Kein anderes mispat ( d.h. Rechtssatzung, B.G.) ist in so vorsätzlicher und verhängnisvoller Weise verkannt worden. Der Satz `Auge um Auge, Zahn um Zahn´ gilt noch immer als die schroffste Verkündigung des ius talionis, die klassische Formulierung einer strengen Vergeltung mit Gleichem, und viele Menschen kennen aus dem AT überhaupt kein anderes Wort.“

Mit dieser zutreffenden Bemerkung eröffnet Benno Jacob seine Auslegung der Verse (2. M. 21, 22-25), auf die es uns im folgenden vor allem ankommen soll. 1

Und seit und weil die sog. 5. Antithese der neutestamentlichen Bergpredigt dem alten „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ das neue Gebot, dem Bösen nicht nur nicht zu widerstehen, sondern auch noch die andere Wange hinzuhalten (Mt 5,38ff.), entgegenhält, avanciert die alttestamentliche Talionsformel zum Differenzpunkt der beiden Testamente 2 und zum Unterscheidungskriterium gar der beiden Religionen – hie Judentum, da Christentum – selbst.

Mit besagter Formel drückt sich ein fatales und auch besonders hartnäckiges antijüdisches Vorurteil aus, das mit einem Hauch von Marcion durchaus einen Rückstoß in Gott selbst hat. Denn wenn diesem Vorurteil zufolge Gerechtigkeit sich vornehmlich auf die erbarmungslose und also grausame Praxis der Vergeltung versteht, dann wird allerdings fraglich, wie der gerechte Gott des Alten Testamentes mit dem erbarmungsvollen und lieben Gott des Neuen Testamentes identisch sein könne.

Und wie der Gott, so das Volk: selbstverständlich wäre dann Frieden mit einem Volk, welches einen solchen Gott den seinen nennt, nie und nimmer möglich, zumal dann nicht, wenn es zur Machtwirklichkeit eines eigenen Staates, des Staates Israel nämlich, gekommen ist. „Auge um Auge, Zahn um Zahn“: eine per se unaufhaltsame und unabschließbare Logik der blanken Wiedervergeltung werde damit in Gang gesetzt, die einzig dadurch an ihr Ende komme, daß schlußendlich niemand mehr etwas zu beißen habe und alle blind seien.

Unbestreitbar markiert die jesuanische Bergpredigt den Beginn einer mißverstehenden Tradition, die den Rechtsgrundsatz „Auge für Auge, Zahn für Zahn“ dem ursprünglichen Kontext äquivalenzorientierter Schadensregelung entnahm und in den Rahmen einer gewalttätigen Vergeltungslogik einfügte. Denn auf das Septuaginta-Zitat „Oph­thalmon anti ophthalmou kai odonta anti odontos“ („Auge  für/anstatt/gegen/um  Auge; Zahn...“) folgt die Weisung, dem Bösen nicht zu widerstehen. Die Rechtsforderung, für einen Schaden ein Äquivalent aufzubringen, wird zur Vergeltungsnorm „Gleiches mit Gleichem /wie du mir, so ich dir“ und zum Widerstand gegen Böses umgedeutet, welcher Widerstand zufolge der Gleichheit dann selbst böse zu nennen wäre. 3 Die lukanische Parallele (Lk 6,27ff) zieht so auch die Konsequenz (allerdings ex silentio): daß es sich verbietet, Böses mit Bösem zu beantworten, ergibt sich bereits aus der – im wörtlichen Sinne – undankbaren Praxis, auf Gutes mit Gutem zu reagieren.(4) Also ist auf das Böse mit der Tat des Guten zu reagieren.

Die Umdeutung zur bösen Logik der Vergeltung schlägt sich nicht zuletzt sprachlich nieder.

Das Wort „anti“, das als Präfix im Verb „antistenai = widerstehen“ steckt, regiert ja auch den Parallelismus „Auge-Auge / Zahn-Zahn“. In der LXX repräsentiert „anti“ das hebr. Wort „tachat“ (mit „für / anstatt von / stellvertretend oder ersetzend für“ zu übersetzen).

Das grch. Wort „anti“ an sich genommen besitzt eine semantische Breite, die durchaus von „um / gegen / wider“ bis zu „anstatt / für“ reicht. Durch den Zusammenstand aber mit dem adversativen Verb „widerstehen“ wird auch das „anti“ des Parallelismus (Auge, Zahn) auf die adversative Bedeutung eingeengt, die sich in der dt. Übersetzung „Auge um / gegen / wider Auge“ rechtens niederschlägt.

Ganz und gar falsch jedoch sind alle rückprojizierenden Übersetzungen, die den adversativen Charakter sowohl dem hebr. Wort „tachat“ als auch dem mit dem Wort angezeigten Sachverhalt unterschieben wollen. Denn, wie jetzt zu zeigen ist, nicht um die Gleiches mit Gleichem heimzahlende Vergeltungslogik ist es der Formel „Ajin tachat ajin (Auge für Auge)“ zu tun, vielmehr geht es um die legitime Rechtsforderung eines äquivalenzorientierten Schadenersatzes. Kein Kreislauf oder gar eine Spirale – unabschließbar-friedlos – von Gewalt und Gegengewalt soll initiiert, der Rechtsfriede vielmehr bewahrt oder durchgesetzt werden. Und nicht täter-, sondern opferorientiert verfährt die durch besagte Formel angeleitete Rechtspraxis, denn nicht auf die Schädigung oder Bestrafung des Täters, sondern auf das Opferrecht des Schadenausgleiches bzw. der „Wiedergutmachung“ zielt die Tachat-Formel.

Befreien wir also die ajin-tachat-ajin-Formel von den Schlacken des Antijudaismus.

Als Norm strikter Wiedervergeltung wurde das Mischpat „Auge für Auge“ weder je gelehrt noch je praktiziert.(5) Bereits in biblischer Zeit und allemal zur Zeit Jesu leitete die Talionsformel eine Praxis der finanziellen Entschädigung für alle Fälle der Körperverletzung (Totschlag und Mord exklusive) an. Die finanziellen Ersatzverpflichtungen, welche eben nicht den Charakter der Geldstrafen besitzen, heißen summarisch „Taschlumim“; und für auch nur etwas hebräisch geschulte Ohren ist daraus das Wort „Schalom = Friede“ heraushörbar. Das Streben nach Frieden, nach seiner Durchsetzung und Bewahrung, regiert nicht nur die jüdische Religion, sondern auch das jüdische Recht; Konfliktprävention und -bewältigung rangieren als leitende Rechtsprinzipien; und der Grundsatz „mipnei darchei schalom“ will die pazifistische Vernunft gerade dazu animieren, um des Friedens willen (mipnei darchei schalom) auch ungewöhnliche Wege zu gehen: so wie Abraham es tat, als er sich von seinem Neffen Lot, den kommenden Konflikt ahnend, trennte und beide ihres Weges gingen (1.M. 13, 5-12).

Zu den Taschlumim zählt bereits die Mischna nicht nur den Schadenersatz im engeren Sinne, vielmehr kennt sie fünf Gebiete, auf denen ein Ersatz zu leisten ist (vgl. Mischna, Traktat Bawa Qama, Kap 8, 1): Schadenersatz („neseq“), Schmerzensgeld („zaar“), Heilungskosten („rifui“), Arbeitsausfallersatz („schewet“) und Beschämungsgeld („boschet“).

 

V.22-25: exegetische, halachische und sozialgeschichtliche Komplikationen
(Benno Jacob, S. R. Hirsch, Frank Crüsemann, Jürgen Ebach)
Der Konsens:

Einigkeit herrscht in der maßgeblichen Lieratur dahingehend, daß „tachat“ mit „anstatt, für, stellvertretend oder in Haftung für“ zu übersetzen ist. Zahlreiche biblische Beispiele können dies belegen, einige seien hier angeführt:

1. M. 2,21: „Da ließ Gott Tiefschlaf auf den Menschen fallen, und als er schlief, nahm er eine von seinen Seiten und schloß Fleisch an deren Stelle“ („tachtena“).

1. M. 4,25: „Adam erkannte wieder seine Frau, sie gebar einen Sohn und nannte ihn Scheth, denn Gott hat mir einen anderen Samen gesetzt an Hewels statt; denn ihn hatte Kain erschlagen“ („tachat Hewel“).

2. Kön 10,24 (Jehu verpflichtet seine Wächter, für die Gefangenen zu haften). „Wer einen von den Männern, die ich euch ausliefere, entkommen läßt, der haftet mit seinem Leben für ihn!“ („nafscho tachat nafscho“ = des Wächters Leben für das des Gefangenen).

1. Kön 20,39 (auch hier geht es um die Haftung für einen Gefangenen): „Wenn er abhanden kommt, so haftest du mit deinem Leben für ihn, oder du mußt ein Talent Silber bezahlen“ („nafschcha tachat nafscho“).

Die letzten beiden Beispiele werden uns noch beschäftigen, denn auf sie stützt Frank Crüsemann seine zentrale These, daß – wann immer die finanzielle Ersatzleistung nicht ausdrücklich genannt ist – die „nefesch tachat nefesch“-Formel („Leben für Leben“) die Möglichkeit einer Geldentschädigung ausschließt und vielmehr darauf insistiert, einzig (verschuldetes) Leben könne verlorenes Leben ersetzen.

2. M. 21, 36: „Oder es ist nun erkannt, daß er ein stößiger Ochse ist, dadurch, daß er auch gestern und vorgestern gestoßen, und es hütet ihn fortan sein Eigentümer nicht: so hat er voll zu ersetzen Ochsen für Ochsen, der tote aber bleibt sein“ („schalem jeschalem schor tachat haschor“).

 

Zwei Rabbiner - zwei Meinungen: zu einer unausgetragenen Kontroverse zwischen S. R. Hirsch und Benno Jacob

Die bereits zu Anfang genannte Interpretation des Bundesbuches durch den großen Exegeten und Rabbiner Benno Jacob besitzt, die Auslegung des 21. Kapitels betreffend, den Vorteil, bruchlos geschlossen zu sein, da sie durchgehend alle Fälle, die die tachat-Formel bei sich führen, als solche des finanziellen Ausgleiches behandelt. So übersetzt B. Jacob folgerichtig auch V.23 so:

„Wenn aber ein Unfall geschieht, so sollst du geben Lebens-Ersatz für Leben“.6

Selbstverständlich insistiert auch B. Jacob auf dem Apriori jüdischer Ethik, daß das (menschliche) Leben und seine Erhaltung von allen Gütern das höchste und schützenswerteste Gut (7) ist und kein Tauschwert der Welt, erst recht nicht der Tauschwert des Mammon, verlorenes Leben zu ersetzen vermag.

Aber, argumentiert Jacob, da es sich in V.23 um einen gänzlich unabsichtlichen tragischen Unfall handelt („asson“), d.h. weder um einen versehentlichen Totschlag noch gar um Mord, kommt auch hier das Mischpat einer Geldzahlung zum Zuge, obgleich die männliche Rauferei ein Leben, nämlich das der schwangeren Frau, kostete. Und während die Geldzahlung in V.22 nicht obligatorisch ist (das Ehepaar kann, muß aber nicht auf einer Entschädigung für den Verlust der Föten bestehen), besteht im Falle des tödlichen Unfalles für die Richter ( „pelilim“, in V.22 genannt) die Verpflichtung, dem Mann der Verunglückten eine Entschädigung zu zahlen („so sollst du geben“, das „du“ bezieht Jacob auf die Richter).

Samson Raphael Hirsch, der große neo-orthodoxe Rabbiner des 19.Jh., zieht aus der schlechthinnigen Inkommensurabilität von Geld und Leben andere Übersetzungs- und Auslegungs-konsequenzen als Benno Jacob. So heißt es für V.23:

„Wenn aber ein Todesfall eintritt, so hast du zu geben Leben für Leben.“

Aus dem Satz V.22: „... und es erfolgt aber kein Todesfall, so soll er mit Geld bestraft werden...“ gewinnt sich Hirsch den Gegen-Satz, den er auch halachisch abstützt, nämlich: ereignet sich aber überhaupt ein Unfall mit Todesfolge (als Folge einer menschlichen Handlung), so „enthebt“ auch diese „nicht straffällige Verübung todesstrafwürdiger Verbrechen der Geldstrafe“ 8 (die straffällige Verübung ist ja auf jeden Fall der Möglichkeit der Geldentschädigung entzogen; Asyl oder Hinrichtung sind hier die Sanktionen).

Die halachische Stütze findet sich im babyl. Talmud, Traktat Ketubboth (Ket. 35a). Ebenda wird der grundsätzliche Unterschied diskutiert, welcher die Tötung eines Tieres von derjenigen eines Menschen hinsichtlich der zu verhängenden und nicht zu verhängenden Sanktionen scheidet. Ausgangspunkt ist der Satz aus 3. M. 24,21:

„Wer ein Tier erschlägt, der soll es ersetzen, wer aber einen Menschen erschlägt, der soll getötet werden“.

In der Schule Hiskias wurde gelehrt – so unsere Paraphrase v. Ket. 35a –, daß die Tötung eines Tieres in jedem Fall zur Geldersatz-Zahlung verpflichtet, gleichgültig, ob das Tier absichtlich oder unabsichtlich, vorsätzlich oder versehentlich getötet wurde. Und ganz entsprechend dazu befreit das bloße Faktum der Tötung eines Menschen durch einen Menschen diesen von der Pflicht der Geldentschädigung; weder Vorsatz noch Versehen, weder Absicht noch Unabsichtlichkeit noch irgendein nur denkbarer Grad der Fahrlässigkeit können daran etwas ändern.

S. R. Hirsch nimmt also aus der Gesamtheit der durch die tachat-Formel geregelten Rechtsfälle den besonderen Fall des Lebensverlustes heraus, für welchen es keine finanzielle Ersatzregelung geben kann; und bis auf diese Ausnahme trägt Hirsch die jüdisch-rabbinische Konsensformel, „tachat“ leite die Rechtspraxis der Taschlumim an, in seine Übersetzung ein (wie auch B. Jacob und Buber/Rosenzweig dies tun):

V.24-25: „Auge Ersatz für Auge.....Geschwulst Ersatz für Geschwulst“.

 

Gleiches Recht für alle?

Auch Frank Crüsemann, auf dessen sozialgeschichtlich motivierte Exegese wir nun zu sprechen kommen, grenzt die Problematik des „nefesch tachat nefesch“ („Leben für Leben“) aus der Gesamtheit der Taschlumim-Regelungen aus, allerdings aus anderen Gründen und mit anderen Abzweckungen als S. R. Hirsch. Crüsemann nämlich fragt nach der sozial= geschichtlichen Bedingtheit des biblischen Textes, d.h. nach dessen sozialen und politischen Enstehungsbedingungen und nach dessen sozialen und politischen Aussageintentionen. So läßt er sich von der Fragestellung leiten, inwiefern die Unterscheidung der damaligen Gesellschaft in Sklaven und Freie die Rechtsstruktur des Bundesbuches bestimmt. 9

Für das Bundesbuch insgesamt konstatiert er, dessen rechtsprinzipieller Tenor sei mit der Taschlumim-Regelung gegeben, es gehe also vornehmlich und überwiegend um die Praxis des finanziellen Schadenersatzes. Das 21. Kapitel, das im Mittelpunkt unseres Interesses steht, thematisiere wesentlich das Sklavenrecht; es regiere Aufbau und innere Struktur des Kapitels (Vv.2-11 regeln die Dauer des Sklavenzustandes, den Übergang in die Dauersklaverei und Rechte und Modi der Freilassung; Vv.12-17 sind dem eigenen Thema des Todesrechtes gewidmet und hier einzuklammern; Vv.18-32 werden durch den dreimaligen Rhythmus „Delikte gegen Freie – Delikte gegen Sklaven“ gegliedert: V.18ff; V.22ff; V.28ff).

Für den Passus V.23b-V.25 („Leben für Leben ...Beule für Beule“) notiert Crüsemann einen deutlichen Stilbruch zum Vorhergehenden, denn die bisherige kasuistische Redeweise wird mit V.23b unverkennbar verlassen. Die exegetische Zentralthese lautet nun: angezogen von der absoluten Formel „nefesch tachat nefesch“ (der Todesfall in V.23 fordert verschuldetes Leben ein) wurde dem Text die Glosse V.24-25 mit analogen tachat-Formulierungen eingefügt, die allesamt den Vollzug der strikten Talion anstelle finanzieller Entschädigung fordern. Besieht man sich das textliche Umfeld des späteren Einschubes, so erhellt sich dessen Sinn. Erleidet nämlich ein Sklave oder eine Sklavin eine schwere Körperverletzung, so ist er oder sie – nur – freizulassen (V.26), stirbt ein Sklave oder eine Sklavin nicht unmittelbar unter der Prügel, sondern erst 1-2 Tage hernach, so tritt überhaupt keine Rechtsfolge für dieses Vergehen ein, denn der Sklave oder die Sklavin „ist sein Eigentum“ (V.21).

Crüsemann zufolge also protestiert die strikte Talionsforderung des Einschubes gegen die Ungleichbehandlung von Freien und Sklaven, sofern es sich um die Verletzung körperlicher Integrität handelt. Das strikte Talionsgesetz im Kontext des Sklavenrechtes klagt ein, die Herren möchten doch nicht so billig-allzubillig ihrer Schuld ledig werden und von den Folgen ihrer schädigenden Handlungen sich freikaufen können.

Mit guten Gründen, die hier aufzuzeigen nicht der Ort ist, datiert Crüsemann die Glosse 2. M. 21, 24-25 (10) in die soziale Krisenzeit des 8.Jh., auf welche die prophetische Kritik reagiert. Etliche Passagen der weisheitlichen und prophetischen Literatur belegen die zeitliche und sachliche Parallelität: so heißt es etwa in den Sprüchen Salomos (Prov. 13,8):

„Sühnegeld für das Leben eines Menschen ist sein Reichtum, aber der Arme hört kein Schimpfen.“

D.h.: der Reiche kauft sich von seiner Schuld frei, darüber erbost sich das Volk; der Arme ist solchen Schimpfes ledig, denn er kann sich nicht freikaufen, sondern muß mit Leib und Leben haften. Analog reflekiert die Glosse die Problematik, daß angesichts der sozialen Krise (Verarmung und Verelendung, Abstieg in die Schuldsklaverei und Reichtumsakkumulation) das Bundesbuch mit seiner – für sich genommen guten – Entschädigungspraxis des finanziellen Ausgleiches mißbrauchbar und mißbraucht wird.

 

Es gibt keine „Wiedergutmachung“ (Jürgen Ebach) oder:
Schadenersatz statt „Entschädigung“

Jüngst hat ein anderer Exeget des AT, Jürgen Ebach, die Überlegungen Frank Crüsemanns aufgenommen und fortgeführt.(11)  Ebachs Thesen jedoch zwecken nicht so sehr aufs Sozialgeschichtliche als mehr auf die Dimension der Rechtsphilosophie und Ethik ab.

Ebach übernimmt die These Crüsemanns, die Vv. 24-25 brächten einen protestierenden späteren Einschub in eine frühere Textschicht, die von der Regelung des geldlichen Ersatzes ausgehe. Die jünger anmutende Schicht des Schadenersatzes entpuppt sich also als die ältere, die archaisch wirkende der strikten Talion aber als die in Wahrheit jüngere Schicht.

Warum jedoch diese scheinbare Re-Archaisierung des Rechtes, das in Lehre und Praxis niemals den Vollzug der strikten Vergeltung kannte und kennen wollte. Belegen doch vielmehr die rabbinischen und talmudischen Diskussionen die Absurdität aller Versuche, eine solche Forderung strikter Vergeltung real und praktisch werden zu lassen. Die Gemara B.Q. 83b/84a diskutiert einige der Absurditäten, z.B.: wie soll man zu einer Äquivalenzregelung kommen angesichts der natürlichen Tatsache, daß zwei Augen nie gleich groß, sondern immer im Verhältnis größer oder kleiner sind. Was soll man tun, wenn der Schädigende bereits blind ist, wie soll er den Schaden eines Augenverlustes, den er zufügt, „wiedergutmachen“?

Oder: Wie soll man zu einem gerechten Ausgleich finden, wenn ein Einäugiger entweder schädigt oder geschädigt wird? Verliert er ein Auge und somit sein ganzes Sehvermögen, muß dann der Schuldige auch erblinden oder nicht? Ist aber der Einäugige der Schuldige und bringt seinen Nächsten um ein Auge, darf man ihn dann mit dem Verlust des einzigen Auges sanktionieren, obgleich diese Sanktion doch unverhältnismäßig wäre? Usw., usw.

Obgleich also eine Realisierung der strikten Talion nicht möglich ist, hält die biblische Glosse mit ihrer archaisierenden Formel an ihr fest. Sie mahnt damit an, bei jedem Vollzug monetären Schadenersatzes der Diskrepanz eingedenk zu sein, die zwischen dem Schaden und seinem Ersatz bestehen bleibt. Jede finanzielle Schadensregelung kann nur eine Annäherung an die Äquivalenz, keine wirkliche Entsprechung realisieren – einzig ein Leben könnte ein Leben ersetzen. Ein Schaden mag zwar hinsichtlich seiner Folgen gemildert, er kann aber schlechterdings nicht „wiedergutgemacht“ werden.

Vielleicht sollte man ganz auf das Wort „Entschädigung“ verzichten, weil es suggeriert, es könne ein Schaden aus der Welt fortgeschafft werden, und stattdessen konsequent von Schadenersatz sprechen, denn das Wort „Ersatz“ zeigt ja gerade an, daß der Schaden nicht zum Verschwinden gebracht werden kann.

Ein Schaden, jeder Schaden bleibt der Wirklichkeit eingezeichnet. Aber gerade diese Unaufhebbarkeit des Schadens markiert sowohl die Notwendigkeit als auch die Grenze des real praktizierten finanziellen Schadenersatzes.

Zuletzt wäre zu fragen, worauf die Unaufhebbarkeit jenseits der Grenze des Ersatzes denn verwiese. Sie verweist auf die Notwendigkeit der Vergebung, so zumindest könnte man die Mischna B.Q. 8,7 verstehen:

„Obgleich er ihm eine Entschädigung zahlt, so wird ihm dennoch nicht eher vergeben, als bis er ihm Abbitte geleistet hat.“

Nur das Zusammenspiel von Ersatzleistung und (gewährter) Vergebungsbitte tilgt den Schaden, und somit befinden wir uns theologisch im Vorfeld von „Jom haKippurim“.

 

Anmerkungen:

1)  Benno Jacob, Das Buch Exodus, Stuttgart 1997, 661-673. Stuttgart 1997, 661-673.

2)  Die Opposition „alt-neu“ wird in dt. Bibelübersetzungen auch dadurch befördert, daß die entsprechende Passage Mt 5,38ff. mit Überschriften wie „Von der Vergeltung“ oder „Gebot, nur maßvoll zu vergelten“ (letztere Überschrift steht in der „Guten Nachricht“) versehen wird.

3)  Zu welcher ethischen Absurdität es führen kann, wenn man die Umdeutung und Kontextänderung nicht hinreichend beleuchtet und die Kontexte unscharf hält, zeigt ein Zitat von Eduard Schweizer, das Mt 5, 38ff deutet: „Bei Jesus ist wieder die Ausrichtung auf den andern eindeutig; es geht ihm um die zerbrechliche und stets gefährdete Gemeinschaft, die durch die Anwendung der Gewalt, und wäre es die rechtliche der Klageerhebung und des Prozesses, so oft Erbitterung, Gegengewalt und eine sich steigernde Eskalation hervorruft, die in die Katastrophe führen“, ders.: Die Bergpredigt, Göttingen 1982, 46.

4)  V.33: „Und wenn ihr denen Gutes tut, die euch Gutes tun, was für einen Dank habt ihr?“

5)  Leider meinte auch Calvin sich antijudaisch vergaloppieren zu müssen, als er in der „Institutio“, Mt 5 interpretierend, bemerkte: „So unterwiesen die Pharisäer ihre Jünger zum Begehren nach Rache“ (Inst. IV 20,20).

6)  Ebd., 661. Die Regelung, das je erste Glied der tachat-Formel mit „Ersatz“ zu verbinden: Lebens-Ersatz, Auges-Ersatz, Zahnes-Ersatz usf. werden dann Buber/ Rosenzweig in ihrer Bibelübersetzung übernehmen, wie insgesamt deren Übersetzung in einigen sprachlichen und theologischen Entscheidungen auf dem Kommentar und der Übersetzung B. Jacobs aufruht. Gerade auch die „Namenstheologie“, das Tetragramm mit „ICH“ „DU“, „ER“, „SEINE“ usf. (groß und gesperrt geschriebene Personal- und Possesivpronomona) wiederzugeben, fußt auf theologischen Einsichten Jacobs.

7)  Nur drei Handlungen brechen diese Hierarchie, denn jene zu vermeiden rangiert höher als die Lebens- und Selbsterhaltung: wenn jemand unter der Drohung des Todes gezwungen wird, den Ewigen zu lästern, einen anderen Menschen zu morden oder zu vergewaltigen, so hat er/ sie das eigene Leben daranzugeben.

8)  S. R. Hirsch, Der Pentateuch, 2.Teil: Exodus, Tel-Aviv 1986, 241.

9)  Wir geben im folg. Crüsemanns Ausführungen wieder, die er publiziert hat in : Ders.,Auge um Auge...“ (Ex 21,24f), Zum sozialgeschichtlichen Sinn des Talionsgesetzes im Bundesbuch, Evang. Theol. 47.Jg., Heft 5, 1987, 411-426.

10) Das Bundesbuch insgesamt ist älter und entstand erst nach der Staatenbildung Israels im 9.Jh., denn erst mit dieser gab es Sklaverei in größerem Umfang und damit auch die Notwendigkeit ihrer rechtlichen Regelung.

11) Jürgen Ebach, Der Fluch des Christentums? Gewalt und Gewaltlosigkeit in der Bibel, Vortrag v. 18.1. 2001, gehalten in der ESG Bielefeld.

 

 

Vortrag auf der Tagung des ISAK 
(Intersynodaler Arbeitskreis Christen und Juden)
am 18.03.2002 im Haus der Kirche, Köln

 

Weitere Internet-Veröffentlichung:
http://www.jcrelations.net/de/displayItem.php?id=846
 

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