1. „Jeder
alte Mensch ist eine Abbreviatur der Geschichte“
Mit der Forderung,
„kultursensibel“ zu arbeiten, also auf die unterschiedlichen Herkünfte und
kulturellen Eigenheiten und Traditionen zu achten, wird der eigene Blick heilsam
irritiert, Selbstverständliches fragwürdig – so kann anderes in den eigenen
Horizont eintreten.
Doch ist es
geboten, nicht nur kultursensibel, sondern vor allem geschichtssensibel
zu arbeiten. Denn die überwiegende Mehrheit der alten Menschen, die in der
Bundesrepublik leben, sind auf – wenn auch – verschiedene Weise Boten und
Zeugen aus der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges: als
Täter und Täterinnen, Mitläufer und Mitläuferinnen, als halbherzig und oft
zu spät Widerstehende oder stumm Beistehende, als Verfolgte und Überlebende,
unter welche man die „Kriegskinder“ rechtens wohl auch zählen sollte.
Sie alle sind
Teil einer Mordmaschine gewesen, die ein bisher ungekanntes Ausmaß an Gewalt
und Zerstörung entfesselte. Sie alle tragen Gewalterfahrungen in sich, doch
wie verschieden und sogar gegensätzlich sie auch sein mögen, von ihnen frei
ist niemand.
2. Biographisches
Arbeiten ist begrenzt und muß begrenzt werden
Für etliche
Personen, die verfolgungs- und gewaltbedingte Traumatisierungen erlitten haben,
gilt, daß ihnen das eigene Leiden nicht transparent ist, sie sich – auch aus
Gründen des Selbstschutzes – nicht erinnern können. Angehörige, die zur Lebensgeschichte
befragt werden könnten, gibt es entweder nicht oder sie wissen bzw. sagen
nichts.
Gleichwohl
sind die Traumata präsent: als chronifiziertes somatisches Leiden, als störende,
aber nicht weiter gedeutete „Verhaltensauffälligkeit“, als abgespaltene, dissoziierte
Emotion, an die zu rühren, die aufzustören für die Betroffenen gefährlich
ist (Grenzen des Ideals eines ganzheitlichen Erinnerns und des Ich-Ideals
einer ganzheitlichen, „versöhnten“ Identität).
3. Altenpflege
steht in der Pflicht einer „Schule der Wahrnehmung“
Weil die Betroffenen
denen, die in der Altenarbeit tätig sind, Grenzen der lebensgeschichtlichen
Rekonstruktion setzen, sind die pflegenden u.a Fachkräfte in der Bringschuld,
die oft verschlüsselten Zeichen zu entziffern, die sie vom Gegenüber des
alten Menschen empfangen. Es liegt an uns, denjenigen, die in der Praxis der
Altenhilfe arbeiten und denjenigen, die jene Praxis theoretisch anleiten bzw.
institutionell entscheiden, die Wahrnehmung der versteckten und bisher unbemerkten
Zeichen zu schärfen, zu „sensibilisieren“ – am Leitfaden der Einsicht, daß
wir nur das sehen, was wir wissen (FB-Seminare zur Thematik: was sind Spätfolgen
von Traumata, wie erkenne ich sie, was folgt für die Praxis?).
4. Und wenn
es „zuhause“ nicht mehr geht...
Auch die beste
Unterbringung in einem Heim, einer stationären Einrichtung bedeutet für die
Betroffenen den Angang einer „totalen Institution“. Damit gehen die Gefahren
einer Trauma-Reaktivierung bzw. einer Re-Traumatisierung einher (fremdbestimmt-geordneter
Tagesablauf, Verlust bzw. Einschränkung der Privatsphäre, gewisse Zwangskollektivierung).
Ein Wissen um solche Gefährdungen („Trigger“) ist unabdingbar, um das „Gewaltpotenzial“
zu minimieren, das mit einer Heimunterbringung gegeben ist. Intendiert ist
ein Wissen, das in Praxis übergeht: supervidierte und an der Eigenwahrnehmung
und der Reflexivität orientierte Praxis.
5. Wider
eine Vergröberung: Demenz ist nicht gleich Demenz
Es gibt einen
bisher noch kaum gesehenen Zusammenhang zwischen lebensgeschichtlichen Privationen
und dementiellen Veränderungen. Und wir stehen wohl insgesamt noch am Anfang
der Einsicht, daß und in welcher Weise sich die je besondere Lebensgeschichte
(Kindheit, Beruf, Beziehungen, Abschiede, Verluste) ihre jeweilige „Gestalt“
des Alters erschafft.
Brechen etwa
die kognitiven Abwehrkräfte der Betroffenen / Traumatisierten aufgrund der
Demenz zusammen, so sind diese der Wiederkehr der leidvollen Erfahrungen
schutzlos ausgeliefert, eine Qual v.a. für sie, aber auch die mitbetroffenen
Familien und Pflegekräfte.
Andernteils
ist anzunehmen: manche Person, die als „demenziell verändert“ klassifiziert
wird, ist aufgrund ihrer Traumatisierung „der Welt abhanden gekommen“, lebt
in einer Twilight-Zone, in der Trauma und Demenz ununterscheidbar sind und
ineinanderscheinen.
Köln, den
21.10.2007
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