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Thesen zur Thematik

„Spätfolgen von Traumata im Alter“

 

von Brigitte Gensch


1. „Jeder alte Mensch ist eine Abbreviatur der Geschichte“

Mit der Forderung, „kultursensibel“ zu arbeiten, also auf die unterschiedlichen Herkünfte und kulturellen Eigenheiten und Traditionen zu achten, wird der eigene Blick heilsam irritiert, Selbstver­ständliches fragwürdig – so kann anderes in den eigenen Horizont eintreten.

Doch ist es geboten, nicht nur kultursensibel, sondern vor allem geschichtssensibel zu arbeiten. Denn die überwiegende Mehrheit der alten Menschen, die in der Bundesrepublik leben, sind auf – wenn auch – verschiedene Weise Boten und Zeugen aus der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges: als Täter und Täterinnen, Mitläufer und Mitläuferinnen, als halbherzig und oft zu spät Widerste­hende oder stumm Beistehende, als Verfolgte und Überlebende, unter welche man die „Kriegskin­der“ rechtens wohl auch zählen sollte.

Sie alle sind Teil einer Mordmaschine gewesen, die ein bisher ungekanntes Ausmaß an Gewalt und Zerstörung entfesselte. Sie alle tragen Gewalterfahrungen in sich, doch wie verschieden und sogar gegensätzlich sie auch sein mögen, von ihnen frei ist niemand.

2. Biographisches Arbeiten ist begrenzt und muß begrenzt werden

Für etliche Personen, die verfolgungs- und gewaltbedingte Traumatisierungen erlitten haben, gilt, daß ihnen das eigene Leiden nicht transparent ist, sie sich – auch aus Gründen des Selbstschutzes – nicht erinnern können. Angehörige, die zur Lebensgeschichte befragt werden könnten, gibt es ent­weder nicht oder sie wissen bzw. sagen nichts.

Gleichwohl sind die Traumata präsent: als chronifiziertes somatisches Leiden, als störende, aber nicht weiter gedeutete „Verhaltensauffälligkeit“, als abgespaltene, dissoziierte Emotion, an die zu rühren, die aufzustören für die Betroffenen gefährlich ist (Grenzen des Ideals eines ganzheitlichen Erinnerns und des Ich-Ideals einer ganzheitlichen, „versöhnten“ Identität).

3. Altenpflege steht in der Pflicht einer „Schule der Wahrnehmung“

Weil die Betroffenen denen, die in der Altenarbeit tätig sind, Grenzen der lebensgeschichtlichen Rekonstruktion setzen, sind die pflegenden u.a Fachkräfte in der Bringschuld, die oft verschlüssel­ten Zeichen zu entziffern, die sie vom Gegenüber des alten Menschen empfangen. Es liegt an uns, denjenigen, die in der Praxis der Altenhilfe arbeiten und denjenigen, die jene Praxis theoretisch anleiten bzw. institutionell entscheiden, die Wahrnehmung der versteckten und bisher unbemerkten Zeichen zu schärfen, zu „sensibilisieren“ – am Leitfaden der Einsicht, daß wir nur das sehen, was wir wissen (FB-Seminare zur Thematik: was sind Spätfolgen von Traumata, wie erkenne ich sie, was folgt für die Praxis?).

4. Und wenn  es „zuhause“ nicht mehr geht...

Auch die beste Unterbringung in einem Heim, einer stationären Einrichtung bedeutet für die Be­troffenen den Angang einer „totalen Institution“. Damit gehen die Gefahren einer Trauma-Reaktivierung bzw. einer Re-Traumatisierung einher (fremdbestimmt-geordneter Tagesablauf, Verlust bzw. Einschränkung der Privatsphäre, gewisse Zwangskollektivierung). Ein Wissen um solche Ge­fährdungen („Trigger“) ist unabdingbar, um das „Gewaltpotenzial“ zu minimieren, das mit einer Heimunterbringung gegeben ist. Intendiert ist ein Wissen, das in Praxis übergeht: supervidierte und an der Eigenwahrnehmung und der Reflexivität orientierte Praxis.

5. Wider eine Vergröberung: Demenz ist nicht gleich Demenz

Es gibt einen bisher noch kaum gesehenen Zusammenhang zwischen lebensgeschichtlichen Priva­tionen und dementiellen Veränderungen. Und wir stehen wohl insgesamt noch am Anfang der Einsicht, daß und in welcher Weise sich die je besondere Lebensgeschichte (Kindheit, Beruf, Be­ziehungen, Abschiede, Verluste) ihre jeweilige „Gestalt“ des Alters erschafft.

Brechen etwa die kognitiven Abwehrkräfte der Betroffenen / Traumatisierten aufgrund der De­menz zusammen, so sind diese der Wiederkehr der leidvollen Erfahrungen schutzlos ausgeliefert, eine Qual v.a. für sie, aber auch die mitbetroffenen Familien und Pflegekräfte.

Andernteils ist anzunehmen: manche Person, die als „demenziell verändert“ klassifiziert wird, ist aufgrund ihrer Traumatisierung „der Welt abhanden gekommen“, lebt in einer Twilight-Zone, in der Trauma und Demenz ununterscheidbar sind und ineinanderscheinen.

Köln, den 21.10.2007

 

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