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Frisius, Hildegard; Kälberer, Marianne: Krogel, Wolfgang G.; Lachenicht, Gerlind; Lemmel, Frauke

Evangelisch getauft - als Juden verfolgt. Spurensuche Berliner Kirchengemeinden

Verlag: Wichern 2008
ISBN: 978-3-88981-265-0
452 S., schw.-w. Abb.,

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Christen jüdischer Herkunft:

Erst getauft, dann im Stich gelassen und verraten. Die Verantwortung der evangelischen Kirche im Nationalsozialismus geht weit über unterlassene Hilfeleistung hinaus. Der Berliner Stadtsynodalverband gründete 1936 die Kirchenbuchstelle Alt-Berlin. Unter der Leitung des Pfarrers Karl Themel wurde hier in Zusammenarbeit mit der Reichstelle für Sippenforschung und der Polizei gegen Christen mit "nichtarischer Abstammung" ermittelt.

Deportiert, ermordet, in den Selbstmord getrieben. Ehrenamtliche aus zwölf Kirchengemeinden begaben sich auf die Spurensuche. Sie fanden die Namen von mehr als dreihundert Gemeindegliedern, die in der Shoah umgebracht wurden. Biografien von Einzelnen wie auch von ganzen Familien wurden in unterschiedlichem Umfang rekonstruiert.
Predigten der Jahre 1938, 1978 und 2002 dokumentieren zudem die unterschiedlich akzentuierte Auseinandersetzung mit Schuld und Versagen gegenüber den Juden und den Christen jüdischer Herkunft.

"Evangelisch getauft als Juden verfolgt. Spurensuche Berliner Kirchengemeinden" - Unter diesem Titel erscheint zum 9. November dieses Jahres, dem 70. Jahrestag der „Reichskristallnacht“ am 9. November 1938, ein Buch, das den über 3.000 getauften Juden in zwölf Berliner Kirchengemeinden gewidmet ist. Von diesen über 3.000 Menschen wurden über 300 deportiert und umgebracht.

Der 9. November 1938 ist ein denkwürdiger Tag in der Deutschen Geschichte. Er war das Signal für den Holocaust. Er ist aber auch ein Zeichen für das Versagen der Kirchen im 20. Jahrhundert. Die Kirchen haben nicht widerstanden, als die Gotteshäuser der Juden brannten. Ja, sie haben es versäumt, selbst diejenigen vor dem Staat und seinen Institutionen zu schützen, die durch ihre Taufe zur christlichen Gemeinde gehörten.

Jahrzehntelang wurde eine Erinnerungsarbeit nicht geleistet. Den Anstoß für diese mehr als überfällige Arbeit gab Bischof Huber mit seiner Bußtagspredigt im Jahr 2002, in der er die Gemeinden zur Gedenkarbeit aufrief.
Im Landeskirchlichen Archiv in Berlin entstand 2005 unter Leitung von Dr. Wolfgang Krogel und seiner Mitarbeiterin Gerlind Lachenicht der Arbeitskreis „Christen jüdischer Herkunft“, in dem sich Theologen und Ehrenamtliche aus zwölf Gemeinden ans Werk machten und nach Spuren dieser vergessenen Menschen suchten, um Biographien wenigstens bruchstückhaft zu rekonstruieren.

Die Arbeit löste bei allen Autorinnen und Autoren neben Beklommenheit völliges Unverständnis und auch Zorn über die Akteure der damaligen Zeit aus. Besonders empörte das Verhalten des Pfarrers Karl Themel, der sich als Mitglied der NSDAP den damaligen Kirchenoberen empfahl und unter anderem eine sogenannte „Fremdstämmigenkartei“ in der Kirchenbuchstelle Alt-Berlin aufbaute.

Für den damals erforderlichen Ariernachweis waren Informationen über die Abstammung der Menschen notwendig, die mindestens bis zu den Großeltern, für SS- und SA-Mitglieder sogar noch weiter zurückgingen. Da Personenstandsregister, also Standesämter, erst ab 1874 eingerichtet wurden, konnten diese Abstammungsnachweise nur über die Nachforschungen in Kirchenbüchern erbracht werden. Zu diesem Zweck ließ Karl Themel Angaben von vor 1874 aus den Kirchenbüchern verkarten und zwar in zweifacher Ausfertigung: eine Ausfertigung für die Kirchenbuchstelle und eine Ausfertigung für das Reichsamt für Sippenforschung. Damit waren dem Staat Christen jüdischer Herkunft ausgeliefert, und sie fielen der rassenpolitischen Verfolgung zum Opfer. Die Kirche hat als Institution, aber auch in vielen Fällen bis auf die Ebene der Gemeindekirchenräte, die Ziele des Staates in aller Konsequenz mitgetragen. Wer sich mit der Kirchengeschichte der Weimarer Republik und des NS-Staates befasst, muss erkennen, dass die Zahl aufrechter Widerständler in der Kirche nur gering war und diese Menschen Repressionen, Verhaftungen und auch dem Tod ausgesetzt waren.

Die Ergebnisse unserer Recherchen finden sich in diesem Buch. Es ist ein Buch der Erinnerung, das den Gemeinden Gelegenheit geben soll, über die Stellung der Institution Kirche nachzudenken. Für die Autorinnen und Autoren hat es den Blick für dringende Buße geöffnet.

Hildegard Frisius

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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