Sehr geehrte Veranstaltende und Teilnehmende
der Tagung,
sehr geehrter Herr Prof. Dr. Hartmut Radebold,
es war der Hauptreferent der Tagung, Sie, lieber
Herr Radebold, welcher in einem anschließenden Nachgespräch mir riet und
anregte, kritisch an die Tagung heranzutragende Reflexionen und Annotate
in einem offenen Brief zu formulieren und so in eine gewiss noch weiterhin
zu führende und somit offene Diskussion einzubringen.
Gerne bin ich dieser Anregung nachgekommen, indem
das Folgende sowohl Voten, Gehörtes und Diskutiertes der Tagung selbst als
auch Gedanken des Nachgesprächs und Überlegungen, durchaus in einiger Entfernung
zur Tagung, versammelt.
In den Anfang meiner Überlegungen stelle ich
eine Betrachtung des Begriffs „Kriegskinder“, denn wie jeder Begriff, der
etwas taugt, verspreche ich mir eine Umgrenzung und Erhellung des infrage
stehenden Sachverhalts.
Aber je länger ich das Wort „Kriegskinder“ betrachte,
hin- und herwende, desto problematischer, unschärfer, nebulöser, ja verschleiernder
erscheint mir das Wort.
Eine Generation in einer bestimmten historischen
Zeit soll umgrenzt werden: Kinder der Jahrgänge 1930 (oder etwas später)
bis 1945 (oder auch bis ca. 1947, die gemeinte Problematik geht über den
8. Mai 1945 gewiss hinaus).
In welchem geographischen und politischen Raum:
Deutschland oder ganz Europa?
Wie weit nach Osten blicken wir? Nicht nur bis
dahin, wohin die mordende Wehrmacht Hitlers kam, sondern auch noch dorthin,
wohin sich die vor der deutschen Vernichtungsmaschinerie flüchtenden Familien
retten konnten, sollten wir blicken.
Es ist evidentermaßen notwendig, eine gegen
historisch und transindividuell bedingtes Leiden oft – und nicht zufällig
gerade in Deutschland – blinde und taube Psychiatrie, Psychopathologie und
Psychotherapie über ihre Defizite aufzuklären und die Relevanz der Problematik
von Spätfolgen gewaltverursachter Traumatisierung gerade auch im Älter-Werden
und Alter auf die Agenda zu setzen.
Es fragt sich nur, ob die Begrifflichkeit der
Kriegskindheit und ihrer Folgen (oder verwandte Begriffe mit ähnlichem semantischen
Hof) ein geeigneter Kandidat solcher Aufklärung sein kann.
Ich bestreite nicht, dass der Junge „in den Trümmern
seines Hauses, unter denen seine Eltern begraben wurden“ (London 1940, ein
Foto, das auch in der Bilderfolge des Hauptreferates der Tagung zu sehen
war), ein Kriegskind ist und eine der Folgen solcher Traumatisierung und
schlimmsten Verlusterfahrung in der Kindheit eingedenk seiende Seelsorge,
Psychotherapie und überhaupt ärztliche Kunst Wichtiges und Zutreffendes,
vielleicht sogar Heilsames über den und zu dem heute ungefähr 75jährigen
Mann, wenn er denn lebt, sagen könnte, ich bestreite es nicht: denn den Jungen
traf der Krieg allerdings als ein von außen einbrechende Gewaltereignis.
Anders aber ist die Konstellation, wenn wir uns
z.B. ein 10jähriges Mädchen vorstellen, das im von der deutschen Wehrmacht
eingekesselten Leningrad zusammen mit der Großmutter ums Überleben kämpft,
der Vater ist 1937 verhaftet und erschossen worden.
1937, im Jahr des entfesselten stalinistischen
Terrors, dem Abertausende durch willkürliche Verhaftungen, Deportationen
und Erschießungen zum Opfer fielen.
Noch vor den Traumata, die die deutsche Belagerung
bewirkt, ist dieses Mädchen durch den Verlust des Vaters, den Einbruch staatlicher
Gewalt seelisch beschädigt worden.
Genereller gesagt: es stellt sich die Frage nach
dem Geltungsbereich und der Erklärungskraft der Thematik „Kriegskindheit
und ihre Folgen“, wenn diese für einen europäischen Querschnitt beansprucht
wird.
So nimmt der stalinistische Terror sowohl vor
als auch nach dem „Großen Vaterländischen Krieg“ in den Erinnerungen der Überlebenden
oft eine ebensolche unverwindbare Bedeutung wie der mit dem Überfall auf
die Sowjetunion 1941 beginnende Vernichtungs- und Unterwerfungsfeldzug des
NS-Regimes ein.
Und angesichts des Charakters dieses Krieges,
also eingedenk seiner Ziele, verliert sich die Rede von den „Kriegskindern“
(auch im europäischen Ausmaß) ins Nichtssagende, weil sie ins Allgemeine
versammeln will, was nicht zusammengehören kann, zu verschieden sind hier
die Sachverhalte.
Denn niemals zuvor in der Geschichte war ein
Angriffskrieg wie der gegen die Sowjetunion derart rassistisch und genozidal
motiviert, darauf aus, die jüdische Bevölkerung zu vernichten und weitere
Millionen der nichtjüdischen Bevölkerung zu versklaven.
Und wenn schon das „Mittel“ des Krieges bereits
traumatisierend sich auswirkte, so noch mehr die Ziele der Unterwerfung und
Vernichtung – kaum zu sagen, dass dies nicht in den Grenzen einer, der ersten
Generation der Betroffenen verbleibt, sondern von transgenerationeller Mächtigkeit
ist.
Und wenn wir uns nach Westen wenden?
Sicherlich waren die Kriegsziele des NS-Regimes
hier andere, Raublust und Machtgier eventuell mit anderen Kriegen vergleichbar,
abzüglich allerdings des Willens, die jüdische Bevölkerung auch hier zu
vernichten.
Da ist das 1939 als Tagelöhnerkind nach Abbeville
gelangte polnische Mädchen, dessen Mutter von den ersten deutschen Bomben
vor den Augen des Kindes verbrennt (das Beispiel entnehme ich dem Band „Kriegskinder“
der beiden Journalisten Sonya und Yury Winterberg), da ist andererseits
Saul Friedländer, 1932 in Prag geboren, nach dem Einmarsch der Deutschen
nach Frankreich fliehend und in einem katholischen Internat überlebend. Auch
er erlebt und überlebt zuvor einen Angriff deutscher Flugzeuge auf einen
Zug, der nach Orléans unterwegs ist, des Nachts, auf der Flucht, zusammen
mit seiner Mutter.
Ein Kriegskind?
Saul Friedländer, der ein zweibändiges Standardwerk über
die Vernichtung des europäischen Judentums verfasst und für den ersten Band
1998 den Geschwister-Scholl-Preis erhielt, würde sich diese Zuschreibung
verbitten.
So sind schon diese beiden gerade skizzierten
„Geschicke“ zu verschieden für den einen Begriff, obgleich doch beide Personen
„Opferkinder“ sind und Völkern angehören, die unter der NS-Herrschaft zu
leiden hatten, tschechischer Jude das eine, polnische Nichtjüdin das andere.
Gehen wir nun nach Deutschland, ins Land der
Täter und der Täterkinder, oder wem das zu grob scheint, ins Land der Täter
und Beiständer, Weggucker und Mit-Profiteure, also der damaligen Mehrheit
und Mehrheitsfamilien.
Logisch besehen gibt es nur zwei Optionen, auf
wen bezogen die Kategorie der Kriegskinder greifen könnte.
Erstens meint man alle der benannten Jahrgänge,
sofern sie „irgendwie“ in den Krieg hinein aufwuchsen und ihn, wenngleich
seelisch und ggf. auch körperlich beschädigt überlebten, gleich ob sie nun
zur nichtverfolgten Mehrheit oder zu einer verfolgten Minderheit gehörten.
Einmal davon abgesehen, dass mit dieser Option
ein schon aus Gründen der historischen Gerechtigkeit notwendig aufrecht zu
erhaltener Unterschied einer Insgesamt-Opfer-Mentalität („wir haben alle
gelitten“) weichen müsste, verbietet sich diese erste Verwendung allein
deshalb, weil meines Wissens niemand, wirklich niemand aus einer Familie
mit Verfolgungsgeschichte sich mit der Kriegskind-Kategorie angemessen beschrieben
fände, sie wohl eher als Zynismus empfände.
Wohl haben etliche aus verfolgten Familien auch
den Krieg erlebt und Angst vor dem nächsten alliierten Bombenangriff gehabt
(ihn andererseits auch wieder herbeigesehnt), doch sind nicht diese Ängste
das in den Erinnerungen Vordringliche, sondern die Ausgrenzungserfahrungen
als Kind und Jugendliche(r), die Angst um die von der Deportation bedrohten
Eltern(teile), die Angst vor der eigenen drohenden Vernichtung.
Bliebe als zweite Option diejenige, die Kategorie
auf solche zu beziehen, welche aus Familien der nicht-verfolgten (und teilweise
verfolgenden) Mehrheitsgesellschaft stammen.
Aber auch diese Option ist ideologisch kontaminiert,
denn das Wort vom Kriegskind nährt sich an der moralisch-aufgeladenen Unschuldsvermutung,
die noch jedem Kind zustand. Vor der Weiße und Helle, Überhelle kindlicher
Unschuld wiche eine alles andere als schuldfreie Familiengeschichte ins Dunkle
des Unsichtbaren-Ungesehenen, in der vielleicht nicht der Opa, aber doch
der Vati ein Nazi war, der das Kind zur Härte erzog und ihm Gewalt implantierte
– die so bald aus der Generationsfolge nicht weichen will.
Mit der Kategorie der Kriegskindheit könnte sich
wiederholen, was schon einmal mit dem Schlussstrich und vermeintlichen Anfangspunkt
der „Stunde Null“ avisiert wurde – als wäre da ein Anfangen ohne eine Durcharbeitung
des Gewesenen und eben Fortwirkenden möglich.
Nun also: als gäbe es keine Familien – und Gesellschaftgeschichte
zuvor, aus der die Kinder herkämen und die sie eingeschrieben wären, Kinder
einer totalitären Diktatur, noch bevor sie Kinder des Krieges wurden. Eines
Krieges, der nichts weniger als die notwendige Konsequenz des NS-Regimes
war.
Der Diskurs der Kriegskindheit aber steht in
der Gefahr, an die Stelle der historischen Aufklärung über Tat und Täter,
die Analyse des Bedingungsgefüges menschlichen Handelns und Unterlassens
miteinbegriffen, eine doppelte Passivität zu setzen:
Über Kinder, die sich nicht wehren können, bricht
das (äußere) Geschick eines Krieges herein.
Mag der Diskurs in seinem Anfang noch auf historische
Sensibilisierung aus gewesen sein, inzwischen zeigt er Züge einer anthropologischen
oder quasi-anthropologischen Erstarrung, wie ein Standbild, auf dem eine
Merkmalsmenge von Eigenschaften, Kriegskindern insgesamt zueigen, versammelt
sind.
Ein Subtext des Diskurses, der erfreulicherweise
auf der Kölner Tagung nicht oder nur sehr vereinzelt zu vernehmen war, der
aber sonst des Öfteren mitschwingt und mitspricht, soll hier nicht unerwähnt
bleiben.
Der Subtext, den ich meine, knüpft sich an die
Rede vom Schweigen der Kriegskinder und dem endlichen Ende dieses Schweigens
– jene so richtig wie dieses wünschenswert. Nach 1945 wurde geschwiegen,
beschwiegen und verschwiegen, und es ist gut, wenn das Schweigen „gebrochen“
wird.
Unangenehm, mehr als unangenehm ist der Subtext,
der die Ursachen der langanhaltenden Stille nicht der jahrzehntelang wirkmächtigen
Verdrängung und Abspaltung der bundesdeutschen Gesellschaft, ihre NS-Vergangenheit
betreffend, zuschreibt, sondern jenes Schweigen einem irgendwie zu lange
und zu laut und öffentlich-herrschend geführten Holocaust-Diskurs zuordnen
will.
Als gäbe es eine „Warteschlange des Elends“,
an deren Ende nun endlich das Leid der Kriegskinder thematisiert werden dürfe,
als sei es nun, nachdem jahrelang und das andere / die anderen übertönend
die Opfer der Deutschen zur Sprache gekommen seien, an der Zeit, die Deutschen
als Opfer in den Blick zu rücken.
Tatsächlich ist diese Umkehr-„Logik“ fatal, denn
sie destruiert rapide die nur mühsam gelungenen Differenzierungsfortschritte
im öffentlichen Bewußtsein (Beispiele sind die Wehrmachtsausstellung, Stolperstein-Aktionen,
Gedenktag des 27. Januar u.a.m.), denn sie untergräbt eine Pädagogik, die
sich angemessen und verantwortungsvoll mit der Geschichte und Wirkung des
Holocaust / der Shoa auseinandersetzt, stattdessen behauptend, „wir“ wüssten
doch schon alles darüber und die Jugend könne es nicht mehr hören.
Zutreffend ist vielmehr, dass z.B. die Mehrzahl
der (TV-)Spielfilme die NS-Zeit nur als „Aufreißer“ oder Kulisse gebraucht
und sehr oft an der Oberfläche bleibt.
Und was die vermeintliche Informiertheit der
(auch jüngeren) Deutschen anlangt, so sind die Studien Legion, die eklatante
Wissenslücken belegen.
Und es treibt mich die Möglichkeit um, die Flut
der Publikationen zum Thema „Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung“ und die
Massivität, mit der die Problematik der „Kriegskindheit und ihre Folgen“
vordrängt, könnten die sowieso nur schwache Stimme der Verfolgten (und der
Zweiten Generation) ganz zum Verstummen bringen und ihr Anliegen noch mehr
marginalisieren.
Wer hat noch eine Chance, das Thema der Spätfolgen
verfolgungsbedingter Traumatisierung vortragen und institutionell verankern
zu können, der oder die dies nicht im Windschatten oder –pardon – mit Flankenschutz
der sich etablierenden Kriegskind-Forschung tut?
Kaum ein Runder Tisch der Altenarbeit und -hilfe,
der auf die Vorstellung unserer Vereinsarbeit nicht nahezu reflexartig reagierte
und anhöbe: „Ja, und erst die Kriegskinder…“, um eben doch recht bald von
den Verfolgten auf die Kriegskinder „umzuschwenken“, nicht nur sprachlich,
auch empathisch.
Während ich diesen Brief schreibe, erhalte ich
eine E-Mail von einer Betroffenen der Zweiten Generation der Verfolgtengruppe,
welcher unser Verein dient.
Darin schildert sie einen Vorfall, ein Ereignis
mit ihrer gerade aus dem Krankenhaus zurückgekehrten Mutter, eine von denen,
die die Nazis als „Halbjuden“ stigmatisierten.
„Noch ganz durcheinander“, wie sie zu Beginn
der E-Mail sagt, schreibt die Tochter das Folgende:
„Anfang Januar kam meine Mutter ins Krankenhaus – erst
seit letzter Woche ist sie wieder zu Hause. Sie konnte daher weder die
Eröffnung der Ausstellung `Wir waren Nachbarn´ miterleben, auf dem mein
Album für ihre Großmutter das erste Mal gezeigt wurde, noch konnte sie
meine Gesprächspartnerin sein zu dem, was sich alles daraus ergab. Ich
wollte sie in der schweren Zeit vor und nach ihrer Operation nicht noch
zusätzlich mit ihren Erinnerungen belasten.
So habe ich ihr erst heute das Album gezeigt, in dem
auch von ihr die Rede ist. Sie nahm es, blätterte kurz darin, und fragte
mich, ob sie es behalten könnte. Klar, sagte ich.
Das freute sie, und sie bedankte sich für dieses Geschenk.
Dann fing sie an zu lesen. Als ich gehen und mich vergewissern wollte,
ob sie sich alles durchgelesen und angesehen hätte – auch in der Hoffnung,
noch irgend etwas von ihr zu erfahren, was sie spontan erinnerte nach dem
Ansehen des Albums – sagte sie: Ja, da hast du dir ja wirklich unheimlich
viel Arbeit gemacht. Du kannst es wieder mitnehmen. Wieso das, fragte
ich, du wolltest es doch behalten!
Ich habe es ja jetzt gelesen, war ihre Antwort. Ich:
Aber willst du es denn nicht vielleicht den anderen zeigen – deinen Freunden
und Bekannten?
Und ihre Antwort darauf ist es, die mich noch immer umtreibt: Nee, lass mal,
das will ich nicht. Darüber spreche ich lieber nicht. Ich weiß nicht, wie
die darauf reagieren. Und bei meiner Freundin E. – na, da weiß ich auch
nicht, ob die nicht auch Nazis waren. Und dann heißt es wieder nur ’Wir
haben auch Schweres durchgemacht’. Ich erwähne das nie. Das ist besser
so.“
Da ist es wieder: das Schweigen, der Graben,
der Abgrund zwischen den Tätern und ihren Kindern auf der einen, den Verfolgten
und ihren Kindern auf der anderen Seite.
Keine Allgemeinheit hilft da hinüber. Das Vergangene
ist nicht gegangen, es ist da, es hört nicht auf, noch nicht, noch lange
nicht.
Es bleibt uns nichts übrig, als und dem zuzuwenden,
allem und allen.
Immer wieder, immer wieder neu.
Also fangen wir wieder an.
Brigitte Gensch
Vorstandsvorsitzende des Vereins
„Der halbe Stern“ e.V., Köln
www.der-halbe-stern.de
[1] Erzbistum Köln – Studientag für hauptamtliche Mitarbeiter/innen:
„Was uns
nicht tötet, macht uns härter“ - Kriegskindheit und ihre Folgen heute.
Mit
Prof. Dr. Hartmut Radebold, Martina Böhmer, Frank Weber u.a. - Dienstag,
12. Mai 2009, 09:30 bis 17:00 h, Maternushaus, Köln ; Bereich Altenpastoral
in Kooperation mit: Bereich Frauenseelsorge, Referat Seelsorge im Gesundheitswesen,
Ehe- und Familienpastoral, Spiritualität und Gottesdienst, Erwachsenenbildung.