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"Was und wen meinen wir eigentlich, wenn wir von
Kriegskindern sprechen?"

Kritische Anmerkungen zur Kölner Tagung
„Was uns nicht tötet, macht uns härter“ – Kriegskindheit und ihre Folgen
[1]

Köln, den 22.05.09


Sehr geehrte Veranstaltende und Teilnehmende der Tagung,
sehr geehrter Herr Prof. Dr. Hartmut Radebold,

es war der Hauptreferent der Tagung, Sie, lieber Herr Radebold, welcher in einem anschlie­ßenden Nachgespräch mir riet und anregte, kritisch an die Tagung heranzutragende Re­flexionen und Annotate in einem offenen Brief zu formulieren und so in eine gewiss noch weiterhin zu führende und somit offene Diskussion einzubringen.

Gerne bin ich dieser Anregung nachgekommen, indem das Folgende sowohl Voten, Gehörtes und Diskutiertes der Tagung selbst als auch Gedanken des Nachgesprächs und Überlegungen, durchaus in einiger Entfernung zur Tagung, versammelt.

In den Anfang meiner Überlegungen stelle ich eine Betrachtung des Begriffs „Kriegskinder“, denn wie jeder Begriff, der etwas taugt, verspreche ich mir eine Umgrenzung und Erhellung des infrage stehenden Sachverhalts.

Aber je länger ich das Wort „Kriegskinder“ betrachte, hin- und herwende, desto problemati­scher, unschärfer, nebulöser, ja verschleiernder erscheint mir das Wort.

Eine Generation in einer bestimmten historischen Zeit soll umgrenzt werden: Kinder der Jahr­gänge 1930 (oder etwas später) bis 1945 (oder auch bis ca. 1947, die gemeinte Problematik geht über den 8. Mai 1945 gewiss hinaus).

In welchem geographischen und politischen Raum: Deutschland oder ganz Europa?

Wie weit nach Osten blicken wir? Nicht nur bis dahin, wohin die mordende Wehrmacht Hit­lers kam, sondern auch noch dorthin, wohin sich die vor der deutschen Vernichtungsmaschi­nerie  flüchtenden Familien retten konnten, sollten wir blicken.

Es ist evidentermaßen  notwendig, eine gegen historisch und transindividuell bedingtes Lei­den oft – und nicht zufällig gerade in Deutschland – blinde und taube Psychiatrie, Psychopa­thologie und Psychotherapie über ihre Defizite aufzuklären und die Relevanz der Problematik von Spätfolgen gewaltverursachter Traumatisierung gerade auch im Älter-Werden und Alter auf die Agenda zu setzen.

Es fragt sich nur, ob die Begrifflichkeit der Kriegskindheit und ihrer Folgen (oder verwandte Begriffe mit ähnlichem semantischen Hof) ein geeigneter Kandidat solcher Aufklärung sein kann.

Ich bestreite nicht, dass der Junge „in den Trümmern seines Hauses, unter denen seine El­tern begraben wurden“ (London 1940, ein Foto, das auch in der Bilderfolge des Hauptrefe­rates der Tagung zu sehen war), ein Kriegskind ist und eine der Folgen solcher Traumatisie­rung und schlimmsten Verlusterfahrung in der Kindheit eingedenk seiende  Seelsorge, Psy­chotherapie und überhaupt ärztliche Kunst Wichtiges und Zutreffendes, vielleicht sogar Heil­sames über den und zu dem heute ungefähr 75jährigen Mann, wenn er denn lebt, sagen könnte, ich bestreite es nicht: denn den Jungen traf der Krieg allerdings als ein von außen einbrechende Gewaltereignis.

Anders aber ist die Konstellation, wenn wir uns z.B. ein 10jähriges Mädchen vorstellen, das im von der deutschen Wehrmacht eingekesselten Leningrad zusammen mit der Großmutter ums Überleben kämpft, der Vater ist 1937 verhaftet und erschossen worden.

1937, im Jahr des entfesselten stalinistischen Terrors, dem Abertausende durch willkürliche Verhaftungen, Deportationen und Erschießungen zum Opfer fielen.

Noch vor den Traumata, die die deutsche Belagerung bewirkt, ist dieses Mädchen durch den Verlust des Vaters, den Einbruch staatlicher Gewalt seelisch beschädigt worden.

Genereller gesagt: es stellt sich die Frage nach dem Geltungsbereich und der Erklärungskraft der Thematik „Kriegskindheit und ihre Folgen“, wenn diese für einen europäischen Quer­schnitt beansprucht wird.

So nimmt der stalinistische Terror sowohl vor als auch nach dem „Großen Vaterländischen Krieg“ in den Erinnerungen der Überlebenden oft eine ebensolche unverwindbare Bedeu­tung wie der mit dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 beginnende Vernichtungs- und Un­terwerfungsfeldzug des NS-Regimes ein.

Und angesichts des Charakters dieses Krieges, also eingedenk seiner Ziele, verliert sich die Rede von den „Kriegskindern“ (auch im europäischen Ausmaß) ins Nichtssagende, weil sie ins Allgemeine versammeln will, was nicht zusammengehören kann, zu verschieden sind hier die Sachverhalte.

Denn niemals zuvor in der Geschichte war ein Angriffskrieg wie der gegen die Sowjetunion derart rassistisch und genozidal motiviert, darauf aus, die jüdische Bevölkerung zu vernich­ten und weitere Millionen der nichtjüdischen Bevölkerung zu versklaven.

Und wenn schon das „Mittel“ des Krieges bereits traumatisierend sich auswirkte, so noch mehr die Ziele der Unterwerfung und Vernichtung – kaum zu sagen, dass dies nicht in den Grenzen einer, der ersten Generation der Betroffenen verbleibt, sondern von transgenera­tioneller Mächtigkeit ist.

Und wenn wir uns nach Westen wenden?

Sicherlich waren die Kriegsziele des NS-Regimes hier andere, Raublust und Machtgier even­tuell mit anderen Kriegen vergleichbar, abzüglich allerdings des Willens, die jüdische Bevöl­kerung auch hier zu vernichten.

Da ist das 1939 als Tagelöhnerkind nach Abbeville gelangte polnische Mädchen, dessen Mut­ter von den ersten deutschen Bomben vor den Augen des Kindes verbrennt (das Beispiel entnehme ich dem Band „Kriegskinder“ der beiden Journalisten Sonya und Yury Winter­berg), da ist andererseits Saul Friedländer, 1932 in Prag geboren, nach dem Einmarsch der Deutschen nach Frankreich fliehend und in einem katholischen Internat überlebend. Auch er erlebt und überlebt zuvor einen Angriff deutscher Flugzeuge auf einen Zug, der nach Orléans unterwegs ist, des Nachts, auf der Flucht, zusammen mit seiner Mutter.

Ein Kriegskind?

Saul Friedländer, der ein zweibändiges Standardwerk über die Vernichtung des europäischen Judentums verfasst und für den ersten Band 1998 den Geschwister-Scholl-Preis erhielt, würde sich diese Zuschreibung verbitten.

So sind schon diese beiden gerade skizzierten „Geschicke“ zu verschieden für den einen Be­griff, obgleich doch beide Personen „Opferkinder“ sind und Völkern angehören, die unter der NS-Herrschaft zu leiden hatten, tschechischer Jude das eine, polnische Nichtjüdin das andere.

Gehen wir nun nach Deutschland, ins Land der Täter und der Täterkinder, oder wem das zu grob scheint, ins Land der Täter und Beiständer, Weggucker und Mit-Profiteure, also der damaligen Mehrheit und Mehrheitsfamilien.

Logisch besehen gibt es nur zwei Optionen, auf wen bezogen die Kategorie der Kriegskinder greifen könnte.

Erstens meint man alle der benannten Jahrgänge, sofern sie „irgendwie“ in den Krieg hinein aufwuchsen und ihn, wenngleich seelisch und ggf. auch körperlich beschädigt überlebten, gleich ob sie nun zur nichtverfolgten Mehrheit oder zu einer verfolgten Minderheit gehör­ten.

Einmal davon abgesehen, dass mit dieser Option ein schon aus Gründen der historischen Gerechtigkeit notwendig aufrecht zu erhaltener Unterschied einer Insgesamt-Opfer-Mentali­tät („wir haben alle gelitten“) weichen müsste, verbietet sich  diese erste Verwendung allein deshalb, weil meines Wissens niemand, wirklich niemand aus einer Familie mit Verfolgungs­geschichte sich mit der Kriegskind-Kategorie angemessen beschrieben fände, sie wohl eher als Zynismus empfände.

Wohl haben etliche aus verfolgten Familien auch den Krieg erlebt und Angst vor dem näch­sten alliierten Bombenangriff gehabt (ihn andererseits auch wieder herbeigesehnt), doch sind nicht diese Ängste das in den Erinnerungen Vordringliche, sondern die Ausgrenzungs­erfahrungen als Kind und Jugendliche(r), die Angst um die von der Deportation bedrohten Eltern(teile), die Angst vor der eigenen drohenden Vernichtung.

Bliebe als zweite Option diejenige, die Kategorie auf solche zu beziehen, welche aus Familien der nicht-verfolgten (und teilweise verfolgenden) Mehrheitsgesellschaft stammen.

Aber auch diese Option ist ideologisch kontaminiert, denn das Wort vom Kriegskind nährt sich an der moralisch-aufgeladenen Unschuldsvermutung, die noch jedem Kind zu­stand. Vor der Weiße und Helle, Überhelle kindlicher Unschuld wiche eine alles andere als schuldfreie Familiengeschichte ins Dunkle des Unsichtbaren-Ungesehenen, in der vielleicht nicht der Opa, aber doch der Vati ein Nazi war, der das Kind zur Härte erzog und ihm Gewalt implantierte – die so bald aus der Generationsfolge nicht weichen will.

Mit der Kategorie der Kriegskindheit könnte sich wiederholen, was schon einmal mit dem Schlussstrich und vermeintlichen Anfangspunkt der „Stunde Null“ avisiert wurde – als wäre da ein Anfangen ohne eine Durcharbeitung des Gewesenen und eben Fortwirken­den möglich.

Nun also: als gäbe es keine Familien – und Gesellschaftgeschichte zuvor, aus der die Kinder herkämen und die sie eingeschrieben wären, Kinder einer totalitären Diktatur, noch bevor sie Kinder des Krieges wurden. Eines Krieges, der nichts weniger als die notwendige Konse­quenz des NS-Regimes war.

Der Diskurs der Kriegskindheit aber steht in der Gefahr, an die Stelle der historischen Aufklä­rung über Tat und Täter, die Analyse des Bedingungsgefüges menschlichen Handelns und Unterlassens miteinbegriffen, eine doppelte Passivität zu setzen:

Über Kinder, die sich nicht wehren können, bricht das (äußere) Geschick eines Krieges herein.

Mag der Diskurs in seinem Anfang noch auf historische Sensibilisierung aus gewesen sein, inzwischen zeigt er Züge einer anthropologischen oder quasi-anthropologischen Erstarrung, wie ein Standbild, auf dem eine Merkmalsmenge von Eigenschaften, Kriegskin­dern insgesamt zueigen, versammelt sind.

Ein Subtext des Diskurses, der erfreulicherweise auf der Kölner Tagung nicht oder nur sehr vereinzelt zu vernehmen war, der aber sonst des Öfteren mitschwingt und mitspricht, soll hier nicht unerwähnt bleiben.

Der Subtext, den ich meine, knüpft sich an die Rede vom Schweigen der Kriegskinder und dem endlichen Ende dieses Schweigens – jene so richtig wie dieses wünschenswert. Nach 1945 wurde geschwiegen, beschwiegen und verschwiegen, und es ist gut, wenn das Schwei­gen „gebrochen“ wird.

Unangenehm, mehr als unangenehm ist der Subtext, der die Ursachen der langanhaltenden Stille nicht der jahrzehntelang wirkmächtigen Verdrängung und Abspaltung der bundesdeut­schen Gesellschaft, ihre NS-Vergangenheit betreffend, zuschreibt, sondern jenes Schweigen einem irgendwie zu lange und zu laut und öffentlich-herrschend geführten Holocaust-Diskurs zuordnen will.

Als gäbe es eine „Warteschlange des Elends“, an deren Ende nun endlich das Leid der Kriegskinder thematisiert werden dürfe, als sei es nun, nachdem jahrelang und das andere / die anderen übertönend die Opfer der Deutschen zur Sprache gekommen seien, an der Zeit, die Deutschen als Opfer in den Blick zu rücken.

Tatsächlich ist diese Umkehr-„Logik“ fatal, denn sie destruiert rapide die nur mühsam gelun­genen Differenzierungsfortschritte im öffentlichen Bewußtsein (Beispiele sind die Wehr­machtsausstellung, Stolperstein-Aktionen, Gedenktag des 27. Januar u.a.m.), denn sie un­tergräbt eine Pädagogik, die sich angemessen und verantwortungsvoll mit der Geschichte und Wirkung des Holocaust / der Shoa auseinandersetzt, stattdessen behauptend, „wir“ wüss­ten doch schon alles darüber und die Jugend könne es nicht mehr hören.

Zutreffend ist vielmehr, dass z.B. die Mehrzahl der (TV-)Spielfilme die NS-Zeit nur als „Auf­reißer“ oder Kulisse gebraucht und sehr oft an der Oberfläche bleibt.

Und was die vermeintliche Informiertheit der (auch jüngeren) Deutschen anlangt, so sind die Studien Legion, die eklatante Wissenslücken belegen.

Und es treibt mich die Möglichkeit um, die Flut der Publikationen zum Thema „Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung“ und die Massivität, mit der die Problematik der „Kriegskindheit und ihre Folgen“ vordrängt, könnten die sowieso nur schwache Stimme der Verfolgten (und der Zweiten Generation) ganz zum Verstummen bringen und ihr Anliegen noch mehr marginalisieren.

Wer hat noch eine Chance, das Thema der Spätfolgen verfolgungsbedingter Traumatisierung vortragen und institutionell verankern zu können, der oder die dies nicht im Windschatten oder –pardon – mit Flankenschutz der sich etablierenden Kriegskind-Forschung tut?

Kaum ein Runder Tisch der Altenarbeit und -hilfe, der auf die Vorstellung unserer Vereinsar­beit nicht nahezu reflexartig reagierte und anhöbe: „Ja, und erst die Kriegskinder…“, um eben doch recht bald von den Verfolgten auf die Kriegskinder „umzuschwenken“, nicht nur sprachlich, auch empathisch.

Während ich diesen Brief schreibe, erhalte ich eine E-Mail von einer Betroffenen der Zweiten Generation der Verfolgtengruppe, welcher unser Verein dient.

Darin schildert sie einen Vorfall, ein Ereignis mit ihrer gerade aus dem Krankenhaus zurückgekehrten Mutter, eine von denen, die die Nazis als „Halbjuden“ stigmatisierten.

„Noch ganz durcheinander“, wie sie zu Beginn der E-Mail sagt, schreibt die Tochter das Fol­gende:

„Anfang Januar kam meine Mutter ins Krankenhaus – erst seit letzter Woche ist sie wieder zu Hause. Sie konnte daher weder die Eröffnung der Ausstellung `Wir waren Nachbarn´ mit­erleben, auf dem mein Album für ihre Großmutter das erste Mal gezeigt wurde, noch konnte sie meine Gesprächspartnerin sein zu dem, was sich alles daraus ergab. Ich wollte sie in der schweren Zeit vor und nach ihrer Operation nicht noch zusätzlich mit ihren Erinne­rungen belasten.

So habe ich ihr erst heute das Album gezeigt, in dem auch von ihr die Rede ist. Sie nahm es, blätterte kurz darin, und fragte mich, ob sie es behalten könnte. Klar, sagte ich.

Das freute sie, und sie bedankte sich für dieses Geschenk. Dann fing sie an zu lesen. Als ich gehen und mich vergewissern wollte, ob sie sich alles durchgelesen und angesehen hätte – auch in der Hoffnung, noch irgend etwas von ihr zu erfahren, was sie spontan erinnerte nach dem Ansehen des Albums – sagte sie: Ja, da hast du dir ja wirklich unheimlich viel Ar­beit gemacht. Du kannst es wieder mitnehmen. Wieso das, fragte ich, du wolltest es doch behalten!

Ich habe es ja jetzt gelesen, war ihre Antwort. Ich: Aber willst du es denn nicht vielleicht den anderen zeigen – deinen Freunden und Bekannten?

Und ihre Antwort darauf ist es, die mich noch immer umtreibt:  Nee, lass mal, das will ich nicht. Darüber spreche ich lieber nicht. Ich weiß nicht, wie die darauf reagieren. Und bei meiner Freundin E. – na, da weiß ich auch nicht, ob die nicht auch Nazis waren. Und dann heißt es wieder nur ’Wir haben auch Schweres durchgemacht’. Ich erwähne das nie. Das ist besser so.“

Da ist es wieder: das Schweigen, der Graben, der Abgrund zwischen den Tätern und ihren Kindern auf der einen, den Verfolgten und ihren Kindern auf der anderen Seite.

Keine Allgemeinheit hilft da hinüber. Das Vergangene ist nicht gegangen, es ist da, es hört nicht auf, noch nicht, noch lange nicht.

Es bleibt uns nichts übrig, als und dem zuzuwenden, allem und allen.

Immer wieder, immer wieder neu.

Also fangen wir wieder an.

Brigitte Gensch

Vorstandsvorsitzende des Vereins

„Der halbe Stern“ e.V., Köln

www.der-halbe-stern.de

 

 

[1] Erzbistum Köln – Studientag für hauptamtliche Mitarbeiter/innen: Was uns nicht tötet, macht uns härter“ - Kriegskindheit und ihre Folgen heute. Mit Prof. Dr. Hartmut Radebold, Martina Böhmer, Frank Weber u.a. - Dienstag, 12. Mai 2009, 09:30  bis 17:00 h, Maternushaus, Köln ; Bereich Altenpastoral in Kooperation mit: Bereich Frauenseelsorge, Referat Seelsorge im Gesundheitswesen, Ehe- und Familienpastoral, Spiritualität und Gottesdienst, Erwachsenenbildung.

 

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