Literatur (Volltext)

 

 

 

download PDF-DateiStraus, Erwin (1961)

Diskussionsbemerkungen zu vorstehenden Beiträgen von
W. von Baeyer, P. Matussek und W. Jacob
[1]

Der Nervenarzt, 32, 1961, S. 551f

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Ich bin nicht im Konzentrationslager gewe­sen, ich habe keine Gutachten erstattet, doch habe ich gute Freunde und Verwandte im Konzentrationslager verloren. Ich kann also nicht aus persönlicher Erfahrung sprechen, aber ich will ver­suchen, etwas zur Klärung des Grundproblems beizutragen. Mir scheint, schon das bloße Wort „Dauerschädigung" nimmt eine theoretische Entscheidung vorweg. Es postuliert, daß es Erlebnisse, eine Vielheit einzelner Erlebnisse gibt, die zu einer be­stimmten Zeit eintreten, auf eine gewisse Dauer nachwirken, um zuletzt wie ein Gong allmählich abzuklingen. Wenn man anstatt von Dauerschädigungen zu sprechen, die Situation anders benennen würde, sollte man leichter zu einem Ver­ständnis und zu einer Verständigung gelangen.

Zur Erörterung steht das Problem der Um­kehrbarkeit von Erfahrung schlechthin und insbesondere der Umkehrbarkeit oder Un-Um­kehrbarkeit des Erleidens der Grausamkeiten des Konzentrationslagers. Eine prinzipielle Umkehrbarkeit dieser wie aller Erfahrungen, wird, wie es scheint, von manchen Gutachtern als die Norm betrachtet. Jedoch im Fall derer, die durch die Lager gegangen sind, verlangt eine solche Um­kehr eine Rückkehr und Ein­kehr grade bei denen, die zu der Gruppe der ehemaligen Peiniger und Verfolger gehören. Es ist auf jene Gruppenbildung, wie sie sich im Denken der Häftlinge vollzieht, wiederholt hingewiesen worden: eine Gruppe ist die der Opfer, alle andern gehören zu der Gruppe der Verfolger. Heilung würde bedeuten, daß die Häftlinge zu dieser Gruppe und in deren Welt zurückkehren, sich dort wieder ansiedeln, um dort gut, schön und begehrenswert zu finden, was dieser andern Gruppe eigentlich zugehört.

Man kann, dem Problem der Dauer und des Abklingens von Erlebnissen vielleicht noch in anderer Weise beikommen. Es gibt ein trivia­les Sprichwort: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. Damit ist gesagt, daß ein einziges Erlebnis hin­reichen kann, um an einem andern Menschen eine Wesens­eigenschaft und ein Dauerverhalten aufzudecken. Wenn jemand durch ein Konzentrationslager gegangen ist und erlebt hat, daß diese uns allen gemeinsame Welt so etwas überhaupt ermöglicht — kann jemand, der solche Erfahrungen gemacht hat, auch nach seiner Befreiung anders als in einer permanenten Verzweiflung weiterleben, weiß er sich doch in eine Welt eingeordnet, die man im strengsten Sinn nur als teuflisch bezeichnen kann?

Nicht daß es sich einmal ereignet hat - das ist schlimm genug - aber daß es sich überhaupt ereignen kann, daß die Welt solche Möglichkeiten birgt, wer das am eigenen Leibe erfahren hat, kann ihm überhaupt noch etwas sinnvoll und begehrenswert erscheinen?

Was anders aber wäre gemeint, wenn wir von arbeiten-wollen und arbeiten-können spre­chen? Ich habe mich im Stillen gewundert, daß in den Vorträgen heute Nachmittag niemand erwähnt hat, ob es Häftlinge gibt, die noch in irgendeinem Sinn als gläubige Menschen aus den Lagern zurückgekehrt sind. Die meisten schweigen, wie Schillers Taucher; einige we­nige Stimmen sind zu laut in ihren Beteuerun­gen, um ganz überzeugen zu können. Es heißt eigentlich einen Menschen überfordern, wenn man von einem Konzentrationslagerhäftling erwartet, daß er sich wieder in eine Welt ein­ordnen soll, die sich im Grunde als sinnlos und teuflisch enthüllt hat. Die Hiobsfrage scheint mir daher eines der Grundprobleme zu sein, die weit über den Einzelnen hinausreichend, sich mit diesen Dingen uns allen aufdrängt.

 

[1]  BAEYER, W.v . (1961): Erlebnisbedingte Verfolgungsschäden, in: Der Nervenarzt, 32, 1961 S.534-538

MATUSSEK, P. (1961): Die Konzentrationslagerhaft als Belastungssituation, ebd. S.538-542

JACOB, W. (1961): Gesellschaftliche Voraussetzungen zur Überwindung der KZ-Schäden, ebd. S.542-545

TRAUTMAN, E.C. (1961): Psychiatrische Untersuchungen an Überlebenden der nationalsozia­listischen Vernichtungslager 15 Jahre nach der Befreiung, ebd. S.545-551

 

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