Ich bin nicht im Konzentrationslager
gewesen, ich habe keine Gutachten erstattet, doch habe ich gute
Freunde und Verwandte im Konzentrationslager verloren. Ich kann also
nicht aus persönlicher Erfahrung sprechen, aber ich will versuchen,
etwas zur Klärung des Grundproblems beizutragen. Mir scheint, schon
das bloße Wort „Dauerschädigung" nimmt eine theoretische
Entscheidung vorweg. Es postuliert, daß es Erlebnisse, eine Vielheit
einzelner Erlebnisse gibt, die zu einer bestimmten Zeit eintreten,
auf eine gewisse Dauer nachwirken, um zuletzt wie ein Gong
allmählich abzuklingen. Wenn man anstatt von Dauerschädigungen zu
sprechen, die Situation anders benennen würde, sollte man leichter
zu einem Verständnis und zu einer Verständigung gelangen.
Zur Erörterung steht das Problem der
Umkehrbarkeit von Erfahrung schlechthin und insbesondere der
Umkehrbarkeit oder Un-Umkehrbarkeit des Erleidens der Grausamkeiten
des Konzentrationslagers. Eine prinzipielle Umkehrbarkeit dieser wie
aller Erfahrungen, wird, wie es scheint, von manchen Gutachtern als
die Norm betrachtet. Jedoch im Fall derer, die durch die Lager
gegangen sind, verlangt eine solche Umkehr eine Rückkehr und
Einkehr grade bei denen, die zu der Gruppe der ehemaligen Peiniger
und Verfolger gehören. Es ist auf jene Gruppenbildung, wie sie sich
im Denken der Häftlinge vollzieht, wiederholt hingewiesen worden:
eine Gruppe ist die der Opfer, alle andern gehören zu der Gruppe der
Verfolger. Heilung würde bedeuten, daß die Häftlinge zu dieser
Gruppe und in deren Welt zurückkehren, sich dort wieder ansiedeln,
um dort gut, schön und begehrenswert zu finden, was dieser andern
Gruppe eigentlich zugehört.
Man kann, dem Problem der Dauer und
des Abklingens von Erlebnissen vielleicht noch in anderer Weise
beikommen. Es gibt ein triviales Sprichwort: Wer einmal lügt,
dem glaubt man nicht. Damit ist gesagt, daß ein einziges
Erlebnis hinreichen kann, um an einem andern Menschen eine
Wesenseigenschaft und ein Dauerverhalten aufzudecken. Wenn jemand
durch ein Konzentrationslager gegangen ist und erlebt hat, daß diese
uns allen gemeinsame Welt so etwas überhaupt ermöglicht — kann
jemand, der solche Erfahrungen gemacht hat, auch nach seiner
Befreiung anders als in einer permanenten Verzweiflung weiterleben,
weiß er sich doch in eine Welt eingeordnet, die man im strengsten
Sinn nur als teuflisch bezeichnen kann?
Nicht daß es sich einmal ereignet hat
- das ist schlimm genug - aber daß es sich überhaupt ereignen kann,
daß die Welt solche Möglichkeiten birgt, wer das am eigenen Leibe
erfahren hat, kann ihm überhaupt noch etwas sinnvoll und
begehrenswert erscheinen?
Was anders aber wäre gemeint, wenn wir
von arbeiten-wollen und arbeiten-können sprechen? Ich habe mich im
Stillen gewundert, daß in den Vorträgen heute Nachmittag niemand
erwähnt hat, ob es Häftlinge gibt, die noch in irgendeinem Sinn als
gläubige Menschen aus den Lagern zurückgekehrt sind. Die meisten
schweigen, wie Schillers Taucher; einige wenige Stimmen sind zu
laut in ihren Beteuerungen, um ganz überzeugen zu können. Es heißt
eigentlich einen Menschen überfordern, wenn man von einem
Konzentrationslagerhäftling erwartet, daß er sich wieder in eine
Welt einordnen soll, die sich im Grunde als sinnlos und teuflisch
enthüllt hat. Die Hiobsfrage scheint mir daher eines der
Grundprobleme zu sein, die weit über den Einzelnen hinausreichend,
sich mit diesen Dingen uns allen aufdrängt.
[1] BAEYER, W.v .
(1961): Erlebnisbedingte Verfolgungsschäden, in: Der Nervenarzt, 32,
1961 S.534-538
MATUSSEK, P. (1961): Die
Konzentrationslagerhaft als Belastungssituation, ebd. S.538-542
JACOB, W. (1961): Gesellschaftliche
Voraussetzungen zur Überwindung der KZ-Schäden, ebd. S.542-545
TRAUTMAN, E.C. (1961): Psychiatrische
Untersuchungen an Überlebenden der nationalsozialistischen
Vernichtungslager 15 Jahre nach der Befreiung, ebd. S.545-551
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