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Der halbe Stern e.V. - Köln

 

1980 - 2005

25 Jahre Synodalbeschluß zur Erneuerung
des Verhältnisses von Christen und Juden

Synodalbeschluß zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden (11. Januar 1980)

Thesen zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden

 

Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland

Synodalbeschluß zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden

11. Januar 1980

 

Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich. Römer 11,18b

 

1.      In Übereinstimmung mit dem „Wort an die Gemeinden zum Gespräch zwischen Christen und Juden“ der Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland vom 12. Januar 1978 stellt sich die Landessynode der geschichtlichen Notwendigkeit, ein neues Verhältnis der Kirche zum jüdischen Volk zu gewinnen.

2.      Vier Gründe veranlassen die Kirche dazu:

1.      Die Erkenntnis christlicher Mitverantwortung und Schuld an dem Holocaust, der Verfemung, Verfolgung und Ermordung der Juden im Dritten Reich.

2.      Neue biblische Einsichten über die bleibende heilsgeschichtliche Bedeutung Israels (z. B. Röm. 9-11), die im Zusammenhang mit dem Kirchenkampf gewonnen worden sind.

3.      Die Einsicht, daß die fortdauernde Existenz des jüdischen Volkes, seine Heimkehr in das Land der Verheißung und auch die Errichtung des Staates Israel Zeichen der Treue Gottes gegenüber seinem Volk sind (vgl. Studie „Christen und Juden“ III, 2 und 3).

4.      Die Bereitschaft von Juden zu Begegnung, gemeinsamem Lernen und Zusammenarbeit trotz des Holocaust.

3.      Die Landessynode begrüßt die Studie „Christen und Juden“ des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und die ergänzenden und präzisierenden „Thesen zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“ des Ausschusses „Christen und Juden“ der Evangelischen Kirche im Rheinland. Die Landessynode nimmt beide dankbar entgegen und empfiehlt allen Gemeinden, die Studie und die Thesen zum Ausgangspunkt einer intensiven Beschäftigung mit dem Judentum und zur Grundlage einer Neubesinnung über das Verhältnis der Kirche zu Israel zu machen.

4.      Deshalb erklärt die Landessynode:

1.      Wir bekennen betroffen die Mitverantwortung und Schuld der Christenheit in Deutschland am Holocaust (vgl. Thesen 1).

2.      Wir bekennen uns dankbar zu den "Schriften" (Lk. 24, 32 und 4S; 1. Kor. 1 5,3 f.), unserem Alten Testament, als einer gemeinsamen Grundlage für Glauben und Handeln von Juden und Christen (vgl. Thesen II).

3.      Wir bekennen uns zu Jesus Christus, dem Juden, der als Messias Israels der Retter der Welt ist und die Völker der Welt mit dem Volk Gottes verbindet (vgl. Thesen III).

4.      Wir glauben die bleibende Erwählung des jüdischen Volkes als Gottes Volk und erkennen, daß die Kirche durch Jesus Christus in den Bund Gottes mit seinem Volk hineingenommen ist (vgl. Thesen IV).

5.      Wir glauben mit den Juden, daß die Einheit von Gerechtigkeit und Liebe das geschichtliche Heilshandeln Gottes kennzeichnet. Wir glauben mit den Juden Gerechtigkeit und Liebe als Weisungen Gottes für unser ganzes Leben. Wir sehen als Christen beides im Handeln Gottes in Israel und im Handeln Gottes in Jesus Christus begründet (vgl. Thesen V).

6.      Wir glauben, daß Juden und Christen je in ihrer Berufung Zeugen Gottes vor der Welt und voreinander sind; darum sind wir überzeugt, daß die Kirche ihr Zeugnis dem jüdischen Volk gegenüber nicht wie ihre Mission an die Völkerwelt wahrnehmen kann (vgl. Thesen VI).

7.      Wir stellen darum fest: Durch Jahrhunderte wurde das Wort "neu" in der Bibelauslegung gegen das jüdische Volk gerichtet: Der neue Bund wurde als Gegensatz zum alten Bund, das neue Gottesvolk als Ersetzung des alten Gottesvolkes verstanden. Diese Nichtachtung der bleibenden Erwählung Israels und seine Verurteilung zur Nichtexistenz haben immer wieder christliche Theologie, kirchliche Predigt und kirchliches Handeln bis heute gekennzeichnet. Dadurch haben wir uns auch an der physischen Auslöschung des jüdischen Volkes schuldig gemacht. Wir wollen deshalb den unlösbaren Zusammenhang des Neuen Testaments mit dem Alten Testament neu sehen und das Verhältnis von "alt" und "neu" von der Verheißung her verstehen lernen: als Ergehen der Verheißung, Erfüllung der Verheißung und Bekräftigung der Verheißung; "Neu" bedeutet darum nicht die Ersetzung des "Alten". Darum verneinen wir, daß das Volk Israel von Gott verworfen oder von der Kirche überholt sei.

8.      Indem wir umkehren, beginnen wir zu entdecken, was Christen und Juden gemeinsam bekennen: Wir bekennen beide Gott als den Schöpfer des Himmels und der Erde und wissen, daß wir als von demselben Gott durch den aaronitischen Segen Ausgezeichnete im Alltag der Welt leben. Wir bekennen die gemeinsame Hoffnung eines neuen Himmels und einer neuen Erde und die Kraft dieser messianischen Hoffnung für das Zeugnis und das Handeln von Christen und Juden für Gerechtigkeit und Frieden in der Welt.

5.      Die Landessynode empfiehlt den Kreissynoden die Berufung eines Synodalbeauftragten für das christlich-jüdische Gespräch. Die Landessynode beauftragt die Kirchenleitung, erneut einen Ausschuß "Christen und Juden" einzurichten und Juden um ihre Mitarbeit in diesem Ausschuß zu bitten. Er soll die Kirchenleitung in allen das Verhältnis von Kirche und Judentum betreffenden Fragen beraten und Gemeinden und Kirchenkreise zu einem vertieften Verständnis des Neuansatzes im Verhältnis vonJuden und Christen verhelfen. Die Landessyhode beauftragt die Kirchenleitung zu prüfen, in welcher Form die Evangelische Kirche im Rheinland eine besondere Mitverantwortung für die christliche Siedlung Nes Ammim in Israel so übernehmen kann, wie dies andere Kirchen (z. B. in den Niederlanden und in der Bundesrepublik Deutschland) bereits tun. Die Landessynode beauftragt die Kirchenleitung, dafür zu sorgen, daß das Thema Christen und Juden in der kirchlichen Aus-, Fort- und Weiterbildung angemessen berücksichtigt wird.

Die Landessynode hält es für wünschenswert, daß an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal und an der Gesamthochschule Wuppertal ein regelmäßiger Lehrauftrag mit der Thematik "Theologie, Philosophie und Geschichte des Judentums" wahrgenommen wird, und bittet die Kirchenleitung, in diesem Sinne mit der Kirchlichen Hochschule Wuppertal und mit der Gesamthochschule Wuppertal zu verhandeln.

 

 

Thesen zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden

erarbeitet von dem Ausschuß „Christen und Juden” —
von der Landessynode durch Beschluß entgegengenommen

 

I. Der Holocaust als Wendepunkt

Friede sei den Menschen, die bösen Willens sind, und ein Ende sei gesetzt aller Rache und allem Reden von Strafe und Züchtigung... Aller Maßstäbe spotten die Greueltaten; sie stehen jenseits aller Grenzen menschlicher Fassungskraft, und der Blutzeugen sind gar viele... Darum, o Gott, wäge nicht mit der Waage der Gerechtigkeit ihre Leiden, daß Du sie ihren Henkern zurechnest und von ihnen grauenvolle Rechenschaft forderst, sondern laß es anders gelten. Schreibe vielmehr den Henkern und Angebern und Verrätern und allen schlechten Menschen zugut und rechne ihnen an all den Mut und die Seelenkraft der andern, ihr Sichbescheiden, ihre hochgesinnte Würde, ihr stilles Mühen bei alledem, die Hoffnung, die sich nicht besiegt gab, und das tapfere Lächeln, das die Tränen versiegen ließ, und alle Opfer, all die heiße Liebe... alle die durchpflügten, gequälten Herzen, die dennoch stark und immer vertrauensvoll blieben, angesichts des Todes und im Tode, ja auch die Stunden der tiefsten Schwäche... Alles das, o mein Gott, soll zählen vor Dir für die Vergebung der Schuld als Lösegeld, zählen für eine Auferstehung der Gerechtigkeit — all das Gute soll zählen und nicht das Böse. Und für die Erinnerung unserer Feinde sollen wir nicht mehr ihre Opfer sein, nicht mehr ihr Alpdruck und Gespensterschreck, vielmehr ihre Hilfe, daß sie von der Raserei ablassen... Nur das heischt man von ihnen — und daß wir, wenn nun alles vorbei ist, wieder als Menschen unter Menschen leben dürfen und wieder Friede werde auf dieser armen Erde über den Menschen guten Willens und daß Friede auch über die andern komme.

(Leo Baeck in „Angst — Sicherung — Geborgenheit” von Th. Bovet, Bielefeld 1975.)

 

1.

Unter den Krisen, in denen wir uns heute vorfinden, trifft uns am bedrohlichsten die, welche der Holocaust geschaffen wie umgekehrt den Holocaust hervorgebracht hat. Das griechische Wort Holocaust bedeutet „ganz verbrannt”, in der Bibel „Ganzopfer” (Lev. 1, 3 u. ö.). Der jüdische Schriftsteller Elie Wiesel bezeichnet damit den Mord an den Juden im „Dritten Reich”. Sechs Millionen Menschen wurden, nur weil sie Juden waren, durch Erben des Christentums ermordet. [13]

Die Inschrift des Mahnmals über dem Aschenhügel von Maidanek sagt: „Menschen bereiteten Menschen dieses Los.”

Dieser Holocaust bedeutet eine Krise unserer Zivilisation, Kultur, Politik und Religion.

Der Zivilisation: Die Universität entwickelte und lehrte die Wissenschaft, welche die Menschen mit den technischen Mitteln für diesen Genocid (Völkermord) ausrüstete;

der Kultur: Literatur, Kunst und Philosophie in Deutschland sollten von ihren jüdischen Wurzeln abgeschnitten, ihre jüdischen Elemente ausgelöscht werden;

der Politik: das Mandat der Macht über Menschen und der Verwaltung ihres Zusammenlebens enthüllte in aktiver Beteiligung oder in passiver Zulassung seine bösesten Möglichkeiten als unsere eigene Möglichkeit;

der Religion: alle Bekenntnisse zum Gott Abrahams, Isaaks und Jakabs, der dieses Volk erwählt hat, sind zum Spott gemacht, weil für die Christen die geplante und durchgeführte Ausrottung des erwählten Volkes Gottes vollzogene Blasphemie ist und nun ihre Verwicklung in diese Gotteslästerung ihnen den Mund verschließt — oder, wenn sie dennoch den Mund öffnen, ihr Wort über Versöhnung und Erlösung gewichtslos macht.

Bonhoeffer schrieb 1940: „Die Kirche bekennt, die willkürliche Anwendung brutaler Gewalt, das leibliche und seelische Leiden unzähliger Unschuldiger, Unterdrückung, Haß und Mord gesehen zu haben, ohne ihre Stimme für sie zu erheben, ohne Wege gefunden zu haben, ihnen zu Hilfe zu eilen. Sie ist schuldig geworden am Leben der schwächsten und wehrlosesten Brüder Jesu Christi” (Ethik, S. 50, München 1953).

Johannes XXIII. betete: „Wir bekennen, daß das Kainszeichen an unsrer Stirn steht... Vergib, daß wir dich ein zweites Mal gekreuzigt haben in ihrem Fleisch. Denn wir wußten nicht, was wir taten” (P. Lapide, Rom und die Juden, Freiburg 1967, S. 5).

Wer ist betroffen von diesem ungeheuerlichen Ereignis?

Die Judenheit, die erst nach Jahrzehnten durch Überlebende Lehren aus dem Holocaust in seinen zivilisatorischen, kulturellen, politischen und religiösen Dimensionen zur Sprache zu bringen versucht.

Aber Christen in Deutschland nicht weniger, die freilich unter dem Fluch leben, daß Hitlers Politik der „Judenreinheit” in unserem Land fast verwirklicht ist und man sich hier also leisten könnte, das Ereignis vergangen sein zu lassen. Doch es darf nicht sein, die Kluft zwischen dem Bewußtsein von der Krise durch den Holocaust in der Judenheit und der Verdrängung in unserem Land immer [14] größer werden zu lassen. „Erst wenn die Juden vergessen, dürft auch ihr vergessen.”

 

2.

Theologisch bedeutet die Krise durch den Holocaust zunächst, daß die alte Frage der Theodizee in ungeahnter Schärfe neu gestellt ist. Jüdische und nichtjüdische Schriftsteller haben sie fast verzweifelt zur Sprache gebracht. Als Kirche blieben wir zu dieser Frage bisher stumm. Elie Wiesel, Überlebender von Auschwitz, schrieb 15 Jahre danach:

„Niemals werde die die kleinen Gesichter vergessen, deren Leiber ich verwandelt sah in dem ringelnden Rauch unter einem stummen blauen Himmel.

Niemals werde ich diese Flammen vergessen, die meinen Glauben für immer verzehrten.

Niemals werde ich jene nächtliche Stille vergessen, die mich in alle Ewigkeit des Wunsches beraubte, zu leben.

Niemals werde ich jene Momente vergessen, die meinen Gott und meine Seele mordeten und meine Träume in Staub verwandelten.

Niemals werde ich diese Dinge vergessen, selbst wenn ich verdammt bin, solange zu leben wie Gott selbst. Niemals!” (The Night, New York 1960, S. 44 f.).

Die Frage, wie Gott vor Menschen als der Allmächtige, als der Gerechte und der Liebende dasteht — das ist die Theodizeefrage —, stellte sich immer und stellt sich nun wieder in dreifacher Hinsicht:

Die allgemeine Frage lautet: Wie kann Gott das Leid zulassen?

Bei dieser Fragestellung ist Gott als eine allmächtige Instanz jenseits der Menschenwelt gedacht, welche die menschlichen Geschicke zufriedenstellend lenken müßte. Gegenüber diesem überweltlichen Gott stellt sich die Frage nicht, ob er selbst am menschlichen Leiden leidet. Die Bibel sagt aber von Mose bis Jesus, daß Gott selbst mit seinen Menschen leidet.

Die spezielle Frage in der Anfechtung lautet: Mein Gott, warum hast Du mich verlassen? (Psalm 22, 2 ; Markus 15, 34).

Bei dieser Frage ist Gott der Gesprächspartner, der den Menschen angeredet hat und sich die Gegenfrage gefallen läßt: Wo bist Du jetzt? Warum schweigst Du? Gott ist verstanden als der, der dem Menschen seine Nähe versprochen hat, und den der biblische Beter, [15] einschließlich des Beters Jesus, verklagt: Warum hast Du mich verlassen?

Die letzte Zuspitzung: Warum hat Gott sein erwähltes Israel nicht mehr wie seinen Augapfel behütet? (5. Mose 32, 10).

Wie verhält es sich, daß der erwählte Knecht (Jesaja 41, 8 f.) dennoch leiden muß (Jesaja 50, 4—9; 52, 13—53, 12)? Ist die Erwählung umgekehrt in Verwerfung, der messianische Auftrag an der Welt in die Blamage der Gottverlassenheit?

Juden und einige Christen haben begonnen, ihre quälenden Erfahrungen mit dem Holocaust aus diesen drei Richtungen zu befragen, und haben Antworten versucht:

Richard Rubenstein weigert sich, den Holocaust als Strafe Gottes an dem sündigenden Israel zu interpretieren oder als eine Hiobsprüfung. „Um irgendeinen Sinn in den Todeslagern zu erblicken, muß der traditionelle Gläubige die dämonischste und unmenschlichste Explosion der Geschichte als sinnvollen Ausdruck von Gottes Absichten ansehen” (After Auschwitz... New York 1966, S. 153). Er gibt deshalb das historisch überlieferte Gottesbild auf und will das „Nichts” stehen lassen.

Roy Eckardt möchte den historisch überlieferten Gott festhalten, spricht aber aus, daß Gott wie die Menschen im Holocaust schuldig geworden ist, denn er ist es, „der dem monströsen Leiden erlaubt hat, stattzufinden” (Is the Holocaust unique? Worldview XVII No. 9, 1974, S. 34). Für diese Sünde hat Gott angefangen zu bereuen, indem er Israel sein Land wieder herstellte.

Emil Fackenheim schreibt: „Ich glaube, daß, während keinerlei versöhnliche Stimme von Auschwitz her erklingt, eine gebietende Stimme zu hören ist, und daß diese Stimme mit wachsender Klarheit spricht: Juden ist nicht erlaubt, Hitler posthume Siege zu überlassen. Juden ist aufgetragen, als Juden zu überleben, damit ihr Volk nicht untergehe... Ihnen ist verboten, an Gott zu verzweifeln, damit das Judentum nicht untergeht. Ihnen ist verboten, an der Welt als der Domäne Gottes zu verzweifeln, damit die Welt nicht an die Kräfte von Auschwitz ausgeliefert wird” (Quest for Past und Future, London 1968, S. 20).

Irving Greenberg: Keine Versuche, die Lehren des Holocaust zu lernen, werden seinen Sinn begreifen. Zeit und neue Ereignisse werden neue Dimensionen des Ereignisses aufschließen, vor allem seine normative Bedeutung für Juden und Christen. In dem Maße, in welchem sich Verständnis entwickelt und Buße vertieft, werden wir offen sein für neue Botschaften und Zeugnisse aus dem Ereignis. Vielleicht können wir aus den früheren Modellen jüdischer und christlicher Tradition lernen, wie man mit Ereignissen dieser Größenordnung lebt und aus ihnen Einsichten gewinnt. Fortgesetztes Stu- [16] dium, neue Begegnung und Vergegenwärtigung des Ereignisses sind notwendig, so daß (damit) in ‘jeder Generation ein Jude sich sieht, als wäre er selbst aus Ägypten gezogen’, so daß (damit) jeder Christ wieder den Tod und die Auferstehung Jesu Christi erfährt. Die selbe unablässige Konfrontation mit der Hölle von Auschwitz ist unvermeidbar für eine religiöse wie ethische Rehabilitation in unserer Zeit. Es bedarf des Mutes und großer Wagnisse, die letzte Agonie anzunehmen” (Vortrag Lessons to be learned from the Holocaust, Hamburg, 10. 6.1975).

Abraham Heschel: „Der Staat Israel ist kein Ersatz. Es wäre Blasphemie, ihn als Kompensation zu betrachten. Die Existenz des wiedergeborenen Israel macht jedoch das Leben weniger unerträglich. Sie ist ein kleines Hindernis für die Hindernisse an Gott zu glauben... Ist der Staat Israel Gottes bescheidene Antwort auf Auschwitz? Ein Zeichen der Reue Gottes für die Verbrechen der Menschen in Auschwitz? Keine Tat ist so heilig wie die Tat der Rettung eines Menschenlebens. Das Heilige Land, das mehr als zwei Millionen Juden Zuflucht gewährte ..., hat eine neue Heiligkeit erlangt... Trotzdem, auf Auschwitz gibt es keine Antwort... Eine Antwort versuchen, heißt Blasphemie begehen. Israel befähigt uns aber, die Agonie von Auschwitz, ohne radikale Verzweiflung, einen Schimmer göttlichen Lichtes im Dschungel der Geschichte wahrzunehmen” (The Prophets, Philadelphia 1962, S. 113—115).

Elie Wiesel nähert sich in aller Verzweiflung neutestamentlichem Ausdruck, wenn er angesichts der langgezogenen Exekution eines jüdischen Kindes am Galgen von Auschwitz fragt: Wo ist nun Gott? und antwortet: „Hier, da ist er, da hängt er an diesem Galgen” (The Night, New York 1960, S. 75f.). Und er widerspricht Rubenstein: „Jude zu sein, bedeutet, sämtliche Gründe in der Welt dafür zu haben, keinen Glauben zu haben an Sprache, an Singen, an Gebete und an Gott, aber fortzufahren, die Geschichte zu erzählen, den Dialog weiterzutragen, und meine eigenen stillen Gebete zu haben und meine Auseinandersetzungen mit Gott” (The German Churchstruggle and the Holocaust, hrg. v. FHLittell and HGLocke, Detroit 1974, S. 277).

Franklin Sherman versteht vom christlichen Kreuz her: „Gott teilt die Leiden der Menschen, und die Menschen sind aufgerufen, die Leiden Gottes zu teilen” (Speaking of God after Auschwitz in „Speaking of God today: Jews and Lutherans in Conversation”, Philadelphia 1974, S. 157).

 

3.

Jüdische Betroffene fragen, warum sich die Theodizeefrage nicht noch viel härter für Christen stellt, und sie laden ein, mit ihnen zusammen nach Antwort zu suchen, wie lang der Weg dieses Fragens auch sein mag (Irving Greenberg). Man kann die Frage zurückdrän— [17] gen, weil man sie vor der Ungeheuerlichkeit des Geschehens als blasphemisch empfindet. Man kann sie aber auch verdrängen, weil man sie selbstschützend vergessen möchte. Aber sie läßt sich nicht beseitigen.

Jüdische Antworten haben es schwer wegen der eigenen Betroffenheit. Juden weigern sich zu Recht, mit schnellem Trost das Unausdenkliche faßbar und das Unaussprechliche sagbar zu mavhen und damit den Ermordeten noch gleichsam ihren Tod zu stehlen. Das läßt uns Elie Wiesel im „Gebet eines Zaddik” (Gerechten) von 1968 spüren:

„Ich habe deine Gerechtigkeit, deine Güte nie in Frage gestellt, obwohl ihre Wege meinem Begreifen oft entgangen sind. Ich habe mich unter alles gebeugt und habe zu allem ja gesagt, viel mehr aus Liebe und Dank als aus Resignation. Ich habe die Züchtigungen, das Sinnlose, die Blutopfer auf mich genommen, ich bin selbst schweigend über den Tod einer Million Kinder hinweggegangen. Im Schatten des unerträglichen Geheimnisses von Auschwitz habe ich mir den Schrei und den Zorn und das Verlangen, damit ein für allemal Schluß zu machen, zum Schweigen gebracht. Ich habe mich für das Gebet und die Anbetung entschieden.

Ich habe mich bemüht, in ein Lied zu verwandeln den Dolch, den Du so oft in mein dir gehorsames Herz gestoßen hast. Ich stieß mit meinem Kopf nicht gegen die Mauer, ich riß mir nicht die Wimpern aus, um nicht mehr zu sehen, und nicht die Zunge, um nicht mehr zu reden. Ich sagte mir, es ist leicht, für dich zu sterben, leichter als mit dir zu leben, für dich zu leben in deiner verfluchten und gesegneten Welt, wo auch der Fluch, wie alles Übrige, dein Siegel trägt.

Ich erfand Gründe und Freuden, um sie mit dir in Verbindung bringen zu können und mich auch hier anzuhängen.

Aber damit ist Schluß, sage ich. Ich bin am Ende, ich kann nicht mehr. Wenn du dieses Mal dein Volk im Stich läßt, wenn du dieses Mal dem Würger es gestattest, deine Kinder zu erwürgen und ihre Treue zu deinem Bund zu beschmutzen, wenn du jetzt deine Verheißung beschimpfst, dann wisse, daß du nicht mehr die Liebe deines Volkes verdienst und seine Leidenschaft, dich zu heiligen, dich gegen alles und gegen jeden zu rechtfertigen, ja selbst gegen dich selbst.

Wenn diesmal wieder die Lebenden, die Überlebenden massakriert werden und ihr Tod lächerlich gemacht wird, dann wisse, daß ich meinen Stuhl verlassen und meine Funktion als Führer aufgeben werde, daß ich mich, die Stirn bedeckt mit Asche, zur Erde fallen lassen und weinen werde wie noch nie in meinem Leben, daß ich seufzen und schreien werde wie keines der Opfer jemals vor seinem Sterben geseufzt und geschrien hat, wisse, daß jede meiner Tränen, [18] jeder Schrei aus meinem Herzen deine Herrlichkeit verdüstern, daß alle meine Gesten dich und mich verleugnen werden, wie du mich verleugnet hast, mich selbst, wie du deine Diener bis in ihre deutliche alltägliche Wahrheit hinein verleugnet hast” (Elie Wiesel, Le mendiant de Jérusalem, Paris 1968, S. 106 f.).

Christliche Antworten haben es schwer, wegen der Gefahr, aus der eigenen Verwicklung in das Geschehen zu entfliehen. Diese Gefahr ist gegeben mit der vorzeitigen Sinngebung und Erklärung, mit einem eilfertigen Kreuzesschema oder einer billigen Aüferstehungsthese, der nicht eine lange tätige Buße vorangegangen ist, oder mit einem kurzschlüssigen „Dennoch”-glauben (Psalm 73) ohne vergleichbare Leidenssituation.

Theologische Antworten auf die Theodizeefrage haben so darauf zu achten, daß sie weder Gott die Wahrheit seines Gott-seins rauben, noch den Ermordeten die Wirklichkeit ihres Ausgeliefertseins verfälschen. Angesichts des Holocaust verliert jede generelle Antwort Grund und Überzeugungskraft, sobald sie der unverstellten Wirklichkeit ausgesetzt ist.

 

4.

Angesichts dieser Situation ist das Eingeständnis, daß wir jetzt keine Antwort haben — ja, nicht haben können, verantwortbar.

Das Verstummen vor der Frage und damit das Eingeständnis, das Unerklärbare bis auf weiteres unerklärt lassen zu müssen, ist unterschieden von dem Verstummen und von dem Schweigen, das der „Endlösung der Judenfrage” immer noch den Sieg überläßt. Stumme tätige Buße könnte die vorläufige, aber theologisch notwendige Antwort sein. Fackenheim: „Diese Sache schreit nicht nach Erklärung, aber nach einer Antwort.”

Mit dem Holocaust, der einer theologischen Erklärung spottet, greift die Macht des Todes von Auschwitz nach uns, die nichts als Tod verkündet. Sie möchte auch uns ihrer Sprachvernichtung unterwerfen, damit wir und unsere Nachkommen weiter dem Sieg dieses Todes dienen. Darum ist schon das Aussprechen der Ratlosigkeit zwischen Christen und Christen — und erst recht zwischen Christen und Juden ein Schritt heraus aus der Bedrohung von Auschwitz, zumal wenn dieses Aussprechen die Form des Gebetes erreicht.

Aber dann beginnt die Mannigfaltigkeit der vorläufig möglichen Antworten, die uns jetzt aufgegeben sind. Bei diesen Antworten dürfen wir uns jüdischer Hilfe erfreuen. [19]

 

5.

Keine Antwort zu geben, ist hier eine negative Antwort: Verdrängen; Vergessen, das nur in Selbsttäuschung möglich ist; Verweisen auf die Schuld von anderen.

Positive Antwort beginnt mit dem Eingeständnis Franklin Littells:

„Auf eine geheimnisvolle und zugleich schreckliche Art starben die Juden für eine Wahrheit, die die Christen verleugneten: daß der Herr und Richter der Geschichte uns aus der Mitte der Juden geoffenbart wurde. Die tragische Wahrheit ist, daß die meisten Märtyrer für Christus in unserem Jahrhundert Juden waren” (zit. in: P. Lapide, Kirchenkampf und Völkermord, Deutsches Pfarrerblatt 1975, S. 793).

Die Antwort setzt sich fort, in dem man Irving Greenbergs Vorschlag hört und umsetzt, der auf die Frage, wie man von Gott nach diesem Geschehen sprechen kann, zunächst antwortet:

„Man kann nur ein Zeugnis anbieten — das ist das stumme, aber höchst ausdrucksvolle Zeugnis von einer Erneuerung des Bildes Gottes dadurch, daß man ein Kind hat; dadurch, daß man einem menschlichen Leben, das entehrt und beschmutzt wurde, wieder zu der Fülle seiner unverwechselbaren Gottesebenbildlichkeit und seiner einzigartigen Würde verhilft” (a.a.O., S. 10).

Und damit fächern sich die Antworten auf in Aufgaben, die nur scheinbar überwiegend auf ethischem Feld liegen, tatsächlich aber theologisch begründet sind:

Mitarbeit bei der verantwortlichen Kontrolle unserer (inzwischen unendlich erweiterten) technokratischen Mittel (Zivilisation);

hindurchhelfen „durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede” (Paul Celan), (Kultur);

kritischer Widerstand gegen die Wiederholung von Machtballungen und gegen die Entmündigung ohnmächtiger Gesellschaftsgruppen (Politik);

den Prozeß des Umdenkens bestimmter theologischer Vorstellungen einleiten, wie wir sie mit den nun folgenden Kapiteln über fünf, uns zur Zeit für das christlich-jüdische Verhältnis brennend und belastend erscheinenden, theologischen Komplexen und kirchlichen Lehrtraditionen einzuleiten unternehmen (Religion).

Dann hoffen wir auf das Geschenk, das „Dennoch” des 73. Psalms zusammen mit Juden buchstabieren zu dürfen. [20]

 

II. Die gemeinsame Bibel

 

1. (Begriffserklärung)

Für Juden und Christen gibt es ein gemeinsames Buch, das für beide „Schrift” oder Bibel ist.

Als die Sammlung urchristlicher Schriften zusammengefaßt und mit kanonischer Geltung vorlag, wurde in der Kirche die für Juden und Christen gemeinsame „Schrift” nach einem Vorgang bei Paulus (2. Kor. 3) das Alte Testament, die Sammlung der urchristlichen Schriften das Neue Testament genannt, das will sagen, Urkunde des Alten und des Neuen Bundes.

Für das Empfinden der Juden und unbestreitbar auch nach der Ansicht vieler Christen bedeutet diese Kennzeichnung der gemeinsamen „Schrift” als „alt” eine Abwertung. Weil diese „Schrift” aber Bestandteil der christlichen Bibel ist, darf die Bezeichnung „Neues Testament” keine Abwertung eines „Alten Testaments” bedeuten, sondern kann allenfalls eine Beschreibung der zeitlichen Abfolge und des Zusammenhangs der beiden Sammlungen im Sinne von fortgehender Verheißung, Erfüllung und neuer Bekräftigung der Verheißung sein.

Jüdisch hat sich die Bezeichnung der „Schrift” als Tanach durchgesetzt, das ist das Kürzel für den Namen der drei großen Teile des Buches: Tora (= Weisung, die Mosebücher), Newiim (prophetische Bücher), Ketuwim (Schriften). Da die Bezeichnung „Bibel” jüdisch geläufig ist, empfiehlt sich zur Unterscheidung von der auch das Neue Testament umfassenden christlichen Bibel für das Alte Testament die Bezeichnung „Hebräische Bibel”.

 

2. (Die Offenbarung Gottes)

Für Juden und Christen ist die „Schrift” Zeugnis von Gottes Handeln in unsrer Welt.

Für Juden und Christen gibt Gott in der „Schrift” zu erkennen, wer er ist.

Juden und Christen ist gemeinsam, was der Begriff der Offenbarung besagt: Gott ist der uns Menschen anredende Gott. Beide hören aus dem Wort der „Schrift” die gegenwärtige Anrede Gottes (viva vox Dei). [21]

 

3. (Der eine Gott)

Der Gott, den das Neue Testament bezeugt, ist derselbe Gott, von dem die Hebräische Bibel spricht.

Die Hebräische Bibel ist die Bibel Jesu, und der Gott Jesu ist der Gott Abrahams, des Mose und der Propheten.

Juden können sagen, daß der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs sich auch durch die christliche Verkündigung den Völkern bekanntgemacht hat.

Christen bezeugen mit dem Neuen Testament, daß der Gott, der Jesus vom Tod auferweckt hat, der in der „Schrift” bezeugte Gott ist.

Die „Schrift” läßt Juden und Christen darauf achten, daß der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs nicht mit dem Gott der Philosophen verwechselt wird (Pascal), weil Gott sich in der Erwählungs- und Verheißungsgeschichte Israels offenbart.

 

4. (Das Wort Gottes)

Wenn in der Kirche von Gesetz und Evangelium gesprochen wird, darf das nicht so verstanden werden, als sei das Gesetz mit der Hebräischen Bibel und das Evangelium mit dem Neuen Testament identisch.

Die Lehre von Gesetz und Evangelium versteht Gottes Wort als sein richtendes und rettendes Wort.

Diese Unterscheidung gilt für die Hebräische Bibel ebenso wie für das Neue Testament.

 

5. (Der Messias Gottes)

Gleichwohl stellt sich die Frage: Lesen Juden und Christen wirklich dieselbe „Schrift”? Entscheidend ist bei der Antwort, daß die Bibel der Christen neben der Hebräischen Bibel auch das Neue Testament einschließt.

Der im Neuen Testament bezeugte Jesus von Nazareth hat für Juden und Christen unterschiedliche Bedeutung. Für die Christen ist er der in der „Schrift” verheißene Messias, die Juden erkennen ihn als den Messias nicht an.

Daran, daß die Christengemeinde in der Person Jesu den in der „Schrift” verheißenen Messias erkannte, die Juden aber diese Er- [22] kenntnis nicht teilen, wird deutlich, daß Juden und Christen dieselbe „Schrift” verschieden verstehen.

Anhand der Lk. 24, 13—25 erzählten Oster-Geschichte (Emmaus) läßt sich sagen: die Christen haben die „Schrift” aus der Hand ihres Messias Jesus, die Juden haben sie als Dokument der Offenbarung Gottes und Ausdruck ihrer Existenz als Gottes Volk. Bei wörtlich gleichem Text sind die Voraussetzungen ihrer Lektüre verschieden.

Juden lesen die „Schrift” als Zeugnis von Gottes Liebe und Gebot und in Erwartung des messianischen Heils.

Christen lesen sie als Zeugnis von Gottes Liebe und Gebot, in Erinnerung an den Messias Jesus, in Erwartung seiner Wiederkunft und des messianischen Heils.

 

6. (Gemeinsames Lesen)

Angesichts dieser Verschiedenheit im Verständnis der „Schrift” sind Juden und Christen herausgefordert, die „Schrift” g e m e i n s a m zu lesen. Da die Schrift ihren Ursprung in der Geschichte des jüdischen Volkes hat, in seinem Glauben, Denken und Tun, müssen die Christen neu lernen, auf die Stimme jüdischer Schriftauslegung zu hören. Sie tun gut daran auch im Interesse eines eindringenderen Verständnisses des Neuen Testaments.

 

III. Jesus Christus zwischen Juden und Christen

 

Er ist unser Friede (Eph. 2, 14).

In der Geschichte der Kirche haben die Christen meist geglaubt, daß Jesus uns vom jüdischen Volk trennt; viele Christen glauben das heute noch. Man sagt:

die Christen, die an Jesus als den Messias glauben, sind von den Juden, die ihn als Messias nicht anerkennen, getrennt;

Jesus hat das Judentum endgültig überwunden und ein neues Gottesvolk begründet;

Jesu Judesein hat keine Bedeutung neben seiner Gottessohnschaft.

 

Absurde Behauptungen besagen:

Jesus war kein Jude, sondern Arier;

Jesus war kein Jude, sondern Christ. [23]

Erst in den letzten Jahrzehnten hat in der Kirche eine Besinnung über die Frage begonnen: Trennt Jesus Christus uns vom jüdischen Volk oder verbindet er uns mit ihm? Nach dem Zeugnis des Neuen Testaments erweist sich der Glaube an Jesus als den Messias und seine Nichtanerkennung als Messias seitens der Juden unter Umständen als trennend; die Person Jesu aber verbindet Christen und Juden.

1.

Das Neue Testament bezeugt die Universalität des Heils, das Gott durch Jesu Leben, Tod und Auferstehung gestiftet hat.

Jesus wurde in der Urkirche als Messias bezeichnet; das griechische Wort für Messias heißt: Christus. Damit ist der Bezug Jesu auf das Volk Israel eindeutig gekennzeichnet. Dazu galt Jesus als Heiland und Gottessohn. Die Bezeichnung Heiland (= Retter) nennt, indem sie ihn zur Welt im Ganzen in Beziehung setzt, das Ziel seines Daseins. Die Bezeichnung Gottessohn nennt, indem sie ihn zu Gott in Beziehung setzt, die Herkunft seines Daseins. Auch in diesen beiden Titeln ist der Bezug Jesu auf das Volk Israel immer schon vorausgesetzt.

In den verschiedenen Uberlieferungsschichten, die das neue Testament enthält, läßt sich das zeigen:

Jesus wußte sich zu den verlorenen Schafen vom Haus Israel gesandt (Matth. 15, 24), und wenn er auch gelegentlich diese Grenze überschreitet (Matth. 15, 28; 8, 10), sendet doch erst der Auferstandene seine Jünger zuden Völkern (Matth. 28, 18 ff.). Christus ist ein Diener der Juden gemäß den biblischen Verheißungen, und die Heiden werden diesen Verheißungen entsprechend zum Gotteslob gelangen (Röm. 15, 8 ff.); der Auftrag zur Zeugenschaft erstreckt sich von Jerusalem, dem Zentrum Israels, bis an die Enden der Erde (Apg. 1, 8).

Der Inhalt dessen, was Jesus Christus für die Welt ist, lautet ohne Ausschließung irgendeiner Personengruppe: „Gott versöhnte in Christus die Welt mit sich selbst” (2. Kor. 5, 19);

„Der Menschensohn ist nicht gekommen, daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene und gebe sein Leben zur Erlösung für die vielen” (Mk. 10, 45);

und mit ausdrücklichem Bezug auf Israel und die Völker in ihrer Verschiedenheit und Zusammengehörigkeit: „Gott hat alle beschlossen unter den Unglauben, damit er sich über alle erbarme” (Röm. 11, 32). [24]

2.

Das Neue Testament bezeugt Jesu Judesein: Er entstammt dem jüdischen Volk; er lebte, wirkte, lehrte und starb als Jude.

Die Stammbäume Jesu (Matth. 1 und Lk. 3) und andere neutestamentliche Texte (Röm. 9, 5; Lk. 1—2) belegen seine jüdische Herkunft. Die Evangelien lassen erkennen, daß er als Jude unter Juden lebte; daß auch seine Auseinandersetzungen mit anderen Juden um das richtige Verständnis von Gottes Willen den Rahmen des Judentums nicht sprengen, sondern innerjüdische Auseinandersetzungen sind.

Jesus starb als Jude, vom römischen Statthalter Pontius Pilatus zum Kreuzestod verurteilt, weil dieser und eine Gruppe aus der Führungsschicht des jüdischen Volkes fürchteten, das Volk werde sich in einem messianischen Aufstand gegen die römische Herrschaft erheben, in Jesus den Messias oder einen messianischen Propheten sehen. Jesus wurde darum heimlich, hinter dem Rücken —des jüdischen Volkes, verhaft—et, verurteilt und gekreuzigt (vgl. Mk. 14, 12; Lk. 19, 48; Joh. 11, 48).

Die Erfahrung der Auferstehung des Gekreuzigten hat in der Urchristenheit schon früh dazu geführt, daß Jesu Tod als Erfüllung biblischer Verheißung verstanden wurde: Er mußte nach dem Willen Gottes sterben für die Sünden der Welt (Jes. 53; Mk. 14, 24; 1. Pt. 2, 24). Der größte Teil des jüdischen Volkes kann nach der Kreuzigung Jesu in dessen Leben und Werk kein Heilsereignis erkennen. Aus der Mitwirkung einzelner Juden an der Verurteilung Jesu, wie die Evangelien sie erzählen, läßt sich eine Schuld des jüdischen Volkes am Tode Jesu auf gar keinen Fall herleiten.

 

IV. Das eine Volk Gottes

 

Die christliche Kirche hat sich seit der Zeit der Urgemeinde als Gemeinde des „neuen” Bundes verstanden. Sie hat von sich als dem „neuen” oder „wahren” Israel gesprochen. Sie hat den in Jesus Christus geschlossenen „neuen Bund” als Überbietung, Ablösung oder sogar als Gegensatz zum „alten” Bund verstanden. Sie hat das sogenannte „Alte” Testament als Buch übernommen, in dem sich eine Verheißung niederschlägt, deren Erfüllung in Jesus Christus das Fundament ihrer Existenz als Kirche des „neuen Bundes” ist. Sie hat die Bundesgeschichte Israels zur bloßen Vorbereitungs- [25] geschichte ihres eigenen Daseins erklärt und sah die legitime Existenz des jüdischen Volkes als Bundesvolk mit dem eigenen Eintritt in die Geschichte als beendet an. Dem Judentum gegenüber wurde ein christlicher Ausschließlichkeitsanspruch zur Geltung gebracht, der letztlich dem Judentum das Existenzrecht absprach. Die christliche Kirche sah sich als heilsgeschichtliche Institution an, die vollgültig an die Stelle des alttestamentlichen Israels getreten war und neben der für die Weiterexistenz eines Bundesvolkes mit eingeprägter Gottesbeziehung kein Raum mehr blieb (Substitutionstheorie). Gegenüber einem solchen Selbstverständnis der christlichen Kirche, das den traditionellen christlichen Antijudaismus hervorgebracht hat, ist festzuhalten:

1. Das „Neue” im „neuen Bund” ist nicht die Preisgabe des „alten” Bundes, sondern dessen Bestätigung in der Geschichte des Jesus von Nazareth. Erster und bleibender Adressat des Evangeliums Jesu ist das Volk Israel (Röm. 1, 16; 9, 5 f.; 15, 8 f.). Im Weg und Werk Jesu beweist der Gott Israels vor aller Welt seine unwandelbare Treue und seine unbedingte Solidarität mit seinem erwählten Volk, das ihm mit seiner Treue zur Thora antwortet. Die Sendung Jesu ist nicht Grund eines göttlichen Fluches über die „widerspenstigen” Juden, sondern Erweis des ungekündigten Bundes Gottes mit Israel.

2. Die in der Sendung Jesu sich bekundende Treue Gottes zu seinem Volk Israel erfährt ihre Krönung durch die Einbeziehung der Völkerwelt in die Erwählungs- und Verheißungsgeschichte Israels. Der Anteil an Israels Erwählung kann von der Völkerwelt nur festgehalten werden durch die bleibende Bindung an die Hoffnung Israels in Jesu Namen (Röm. 11., 17 ff.). In diesem „neuen” — Israel und die Völkerwelt umfassenden — Bundesgeschehen bekundet sich Gottes Zuwendung zu dem Menschen, seine Treue zu seinem Geschöpf (Jer. 31, 31 ff.; 36, 26 f.; Sach. 8, 7 f.; 8, 19 f.; Röm. 5, 8—10; Eph. 2, 18—20; 3, 15—17).

3. Die Erkenntnis, daß die Völkerwelt durch die Sendung Jesu in die Hoffnungsgeschichte Israels einbezogen ist, wurde schon in der Frühzeit der Kirche preisgegeben. Die theologische Entwicklung führte zu dogmatischen Konstruktionen, welche die Entfremdung der Kirche vom Judentum noch verstärkten. Unter Ausschluß Israels aus der Dreiheit „Israel — Messias — Völkerwelt” wurde die Zweiheit „Christus — Kirche”. Die Kirche verstand sich als das „neue Gottesvolk” und damit als den einzigen legitimen Erben biblischer Verheißung. Das Israel, das sich der Anerkennung Jesu als Messias [26] verschloß, konnte man nur als Volk unter dem Fluch Gottes begreifen. Das hat bis heute seinen mannigfachen Niederschlag in der theologischen Lehre, in der Verkündigung und Unterweisung, in der Liturgie und in der Frömmigkeit gefunden.

4. Das Selbstverständnis der Kirche, das „neue” Gottesvolk zu sein, hatte in der nachkonstantinischen Zeit für die Juden schwere gesellschaftliche, rechtliche, wirtschaftliche und existentielle Folgen: Ausschluß aus der christlich bestimmten abendländischen Gemeinschaft, Ghettoisierung, Verdächtigung und Diffamierung aller Art, Berufsverbote, Verfolgungen bis hin zum Mord. Noch in den Versuchen der Antisemiten des 19. Jahrhunderts, die Emanzipation der Juden aufzuhalten oder rückgängig zu machen, wie umgekehrt in den Versuchen, ihre Assimilation zu beschleunigen, und selbst noch in den Rechtfertigungsversuchen der nationalsozialistischen Rassenpolitik wirkte die „Substitutionstheorie” nach.

5. Demgegenüber erkennen wir heute die Notwendigkeit einer Rückbesinnung auf die in der Heiligen Schrift bezeugte gemeinsame Verheißungs- und Erwählungsgeschichte von Israel und Kirche. Unser Bekenntnis zu Jesus Christus ermöglicht uns, den ungekündigten Bund Gottes mit Israel, seinem „erstgeborenen Sohn” (Ex. 4, 22), zu bezeugen und in der konkreten Hinwendung zum heutigen Judentum unsere Dankbarkeit für Gottes Erbarmen mit allen Menschen (Röm. 11, 32) zu erweisen. Wir dürfen nicht mehr von einem „alten” und von einem „neuen” Gottesvolk reden, sondern nur von dem einen Gottesvolk, das als das Israel Gottes dem Ruf in Gottes Zukunft folgt.

 

V. Gerechtigkeit und Liebe im Judentum und im Christentum

 

Von der gemeinsamen Wurzel, der Hebräischen Bibel aus, sind in der jüdischen wie in der christlichen Tradition Gerechtigkeit und Liebe begründet im Heilshandeln Gottes an der Welt und am Menschen. In Gottes Heilshandeln wird offenbar, daß Gerechtigkeit und Liebe Wesensmerkmale Gottes sind. Sie können darum nicht voneinander isoliert werden, weder in Gott und seinem Handeln — noch im menschlichen Handeln, das auf dieses antwortet.

Die jüdische Tradition hebt aus Gottes Heilshandeln die Erschaffung des Menschen zum Ebenbild Gottes, die Erwählung Israels und [27] Gottes Treue zu seinem Volk sowie das Geschenk der Tora, der Wegweisung, die Israel ermöglicht, Gottes Partner bei der Bewahrung, Gestaltung und Vollendung der Welt zu sein, als Erweis seiner Liebe und Gerechtigkeit besonders hervor.

Die christliche Tradition sieht im Heilshandeln Gottes in Jesus Christus diese jüdische Tradition bestätigt und mißt ihm unter den Taten Gottes als der wichtigsten Offenbarung seiner Gerechtigkeit und Liebe zentrale Bedeutung bei.

Es ist deshalb nicht gerechtfertigt, von „tiefgehende(n) Unterschiede(n) in der Begründung von Gerechtigkeit und Liebe” (Studie S. 15) im Judentum und im Christentum zu sprechen.

In der jüdischen und in der christlichen Tradition umfaßt die Liebe Gottes alle seine Geschöpfe. Als Gottes Ebenbild und Partner soll der Mensch sein Handeln nach diesem Vorbild Gottes ausrichten.

Er darf darum im Judentum und im Christentum seine Liebe dem Mitmenschen auch dann nicht entziehen, wenn dieser sein Feind ist, — denn auch der Feind bleibt Gottes geliebtes Geschöpf. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß im Judentum schon vor, neben und nach Jesus dem Menschen geboten wird, seinen Feind zu lieben (siehe z. B.: „Wenn sich das Rind oder der Esel deines Feindes verirrt hat und du triffst sie an, so sollst du sie ihm wieder zuführen. Wenn du den Esel deines Feindes unter seiner Last erliegen siehst, so sollst du ihn nicht ohne Beistand lassen, sondern ihm aufhelfen” Ex. 23,4+5; „Und nun, meine Kinder, liebt ein jeder seinen Bruder und rottet den Haß aus eurem Herzen aus, indem ihr einander liebt in Werk und Wort und Gesinnung der Seele. Denn ich redete vor dem Angesicht unseres Vaters friedlich mit Joseph, und wenn ich hinausgegangen war, so verdunkelte der Geist des Hasses meinen Verstand und erregte meine Seele, ihn zu töten. Liebet nun einander von Herzen, und wenn einer gegen dich sündigt, so sage es ihm in Frieden und schaffe das Gift des Hasses weg und halte in deiner Seele die List nicht fest” Test. Gad 6; „Sage nicht: Die mich lieben, liebe ich und die mich hassen, hasse ich, sondern liebe alle” und „Wer seinen Nächsten haßt, gehört zu denen, die Blut vergießen” Derech Eretz Rabba 11). Auch in Matth. 5, 43 f. lehnt Jesus in Übereinstimmung mit dem Hauptstrom jüdischer Lehrtradition ein einschränkendes Mißverständnis des Gebotes der Nächstenliebe ab.

Es ist deshalb nicht gerechtfertigt zu sagen, daß erst Jesus „durch die Forderung der Feindesliebe” das Gebot der Nächstenliebe „von allen Schranken befreit” habe (Studie S. 15). [28]

 

VI. Zur Frage der Judenmission

 

1. Gott hat das Volk Israel zu seinem Eigentumsvolk berufen. Durch diese Berufung werden alle Völker dazu gelangen, Gott zu erkennen und zu lieben und Anteil an seinem Heil zu gewinnen. Die christliche Kirche ist die Versammlung der von Gott durch Jesus Christus und in seinem Namen Berufenen. Sie bezeugt die Einzigartigkeit des Juden Jesus in der Geschichte Gottes mit der Welt.

2. Das jüdische Volk und die christliche Kirche sind darum beide von dem einen Gott berufen, seine Zeugen in der Welt zu sein. Zeugen sind sie durch ihr Dasein und ihr Bekenntnis, mit dem sie vor der Welt Rechenschaft über den Grund ihres Glaubens, ihres Tuns und ihrer Hoffnung ablegen. Rechenschaft sind sie auch einander schuldig, in Achtung vor der Identität und Zeugenschaft des anderen. Wo sie gemeinsam Zeugnis ablegen können, sollten sie das mehr als bisher tun.

3. Die Loslösung der Kirche aus Juden und Heiden vom Volke Israel und die daraus folgende verhängnisvolle Verdrängung, Isolierung und Gefährdung des jüdischen Volkes stellt für die Kirche heute ein belastendes Erbe dar. Die Kirche ist deshalb dazu aufgerufen, ihr Selbstverständnis im Licht der fortdauernden Berufung Israels zu formen und Israel im Namen des Gottes Israels, der der Vater Jesu Christi ist, nicht wie einem Fremden zu begegnen.

4. Gehorsam gegen den einen berufenden und sendenden Gott bedeutet für die Kirche heute, in demütiger, dankbarer und hoffnungsvoller Ökumenizität mit Israel verbunden zu sein und entschlossen zu Israel zu stehen, in welcher geschichtlichen Gestalt auch immer es existiert.

5. Die bleibende Berufung und Sendung Israels verbietet es der Kirche, ihr Zeugnis ihm gegenüber in derselben Weise wie ihre Sendung (Mission) zu allen andern Völkern zu verstehen.

6. Die Existenz der Kirche in ihrer Sendung zu den Völkern ist als Werk des Gottes Israels Zeichen für Israel. Die Kirche schafft diesen Tatbestand nicht selbst, sie kann ihn aber durch ihr Versagengegenüber Israel verdunkeln.

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Kontakt:  Brigitte Gensch

 

 

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